Hauke Hückstädt erinnert sich darin an eine Podiumsdiskussion im März 2011 zum Thema "Wo steht die Literaturstadt Frankfurt heute?" – Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz war mit Suhrkamp bereits nach Berlin gezogen. Die Verlage Baumhaus und Eichborn waren ebenfalls gerade weggezogen. "Auf dem Podium saß auch Uwe Rosenfeld, der langjährige Geschäftsführer der Fischer-Verlage", so Hückstädt. "Mit einer Ruhe, die man in Stein hätte meißeln können, sagte er damals: 'S. Fischer bleibt in Frankfurt, es gibt keine Veranlassung, wegzugehen. Wir werden den Teufel tun, hier wegzugehen!' Und schob schmunzelnd nach: 'Obwohl der Verlag S. Fischer in Berlin gegründet wurde.'"
Bald wurde es wechselhafter am Verlagssitz der Fischer-Verlage, wie Hückstädt weiter ausführt. 2017 kam die vormalige Ullstein-Verlegerin Siv Bublitz, Jörg Bong zog sich aus dem Führungs-Duo früh zurück. Erst starb die Verlagsikone Monika Schoeller, dann Uwe Rosenfeld. "Lauter Einschläge. Und obendrauf kam die Pandemie."
"Die übereilige Absetzung von Bublitz durch die Verlagsgruppe Holtzbrinck bleibt für Branchen-Insider unverständlich", so Hückstädt. "Doch wo Gefahr scheint, dass nervöse Hände regieren, wächst das Rettende auch. Oliver Vogel, einer von jenen, die den Verlag über die Jahre verlassen hatten, wurde jüngst als neuer verlegerischer Geschäftsführer eingesetzt." Mit Vogel habe sich zudem eine Autorenauflehnung wie zuletzt bei Rowohlt ausschließen lassen.
"Wenig moderierend klangen indes die ersten Interviews", kritisiert Hückstädt. "Oliver Vogel sagte noch wenig zu Büchern oder zur wirtschaftlichen Situation, er sagte als Allererstes: 'Speziell für den S. Fischer Verlag mit seinem Programm aus Literatur und Sachbuch werden wir 2023 in Berlin einen zweiten Standort aufbauen'."
Das habe für Gesprächsstoff auf der Frankfurter Buchmesse gesorgt. Denn der Verlag hätte doch längst eine Dependance in Berlin. Ein Verlag mit stark literarischem Profil müsse in der Hauptstadt präsent sein, habe Vogel im Interview mit dem "Börsenblatt" gesagt ("Berlin werden wir ausbauen"). Denn dort wären die Autorinnen und Autoren, dort fänden zufällige Begegnungen statt, nicht nur geplante. In Berlin, so Vogel, lerne man Leute kennen, von denen man noch nie etwas gehört hat. Berlin sei, was Literatur und überhaupt das intellektuelle Leben angeht, sehr viel lebendiger als der Rest des Landes.
"Polarisierender konnte Allgemeingut nicht gesagt werden", urteilt Hückstädt. "Die meisten erfolgreichen Bücher werden derzeit aber in München, Köln und Hamburg gemacht, auch wenn sich dort nicht in jedem Café ein Autor, eine Philosophin oder eine Meinungshupe treffen lässt." Verlegerin Felicitas von Lovenberg vom Münchner Piper Verlag gebe zu bedenken: "Die DNA eines Verlags wird auch geprägt von den Menschen, die dort miteinander arbeiten. Darum ist die Standortfrage aus meiner Sicht keine der Zweckdienlichkeit."
Ein zweiter Standort sei kein Umzug, habe Vogel auf Nachfrage gesagt – und nachgeschoben: "Aber wenn wir es uns in drei oder vier Monaten anders überlegen, habe ich gelogen." Dazu Hückstädt: "Niemand muss lügen, um zu erkennen, dass Frankfurt am Main einen Schleichplatten hat." Berlin sei als Kraftzentrum seit den Neunzigern so attraktiv, dass einige Verlage dort längst Ableger stationiert haben: Hanser Berlin oder KiWi mit Galiani.
Beachtenswert sei die Spaltung zwischen S. Fischer und den etwa zehn in Frankfurt verbleibenden Imprints, die die Konzernleitung in Kauf nehmen würde. Damit werde das sprichwörtliche Silberbesteck zwar nicht nach Unbekannt verziehen. "Doch Signale wie die ebenfalls verkündete Zusammenarbeit mit dem Berliner Verleger Sebastian Guggolz als Teamleiter des S.-Fischer-Klassiker-Lektorats verstärken den Eindruck eines Braindrains."
Mit den Lektoraten verschwänden die anhängenden Abteilungen, die Mikro-Aufträge, die Gespräche, die Pressetermine, der ganze Zauberberg an Ereignissen. "Dagegen könnte Rowohlts Komplettumzug von Reinbek bei Hamburg nach Hamburg-City eine Work-Life-Balance-Maßnahme gewesen sein."
Nicht wenige in der Buchbranche würden damit rechnen, meint Hückstädt, dass die angestrebte Abzweigung Frankfurt/Berlin eines Tages nur mit einem Wegzug enden werde. "Suhrkamp wie S. Fischer, beide Verlage bildeten so etwas wie das Stammhirn des geistigen Gewissens der BRD." Doch der Bär steppe inzwischen wieder in Berlin." Es handle sich also um einen strategischen Konzern-Wunsch. Verlagsfiguren wie Bong und Rosenfeld hätten sich ehedem dagegengestemmt.
Frankfurt habe als Alleinstellungsmerkmal das Energiefeld aus der weltgrößten Buchmesse, mehreren Tageszeitungen, dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der Nationalbibliothek und eben aus dem Stammsitz von S. Fischer. "Wie viel Buch- und Verlagsstadt wäre Frankfurt am Main ohne Tradition?", fragt sich Hückstädt.
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