Die Kollektivbildung aus Eltern und Kindern wandelt sich stark seit dem Ende des 20. Jahrhunderts. Lange Zeit haben sich Porträts von Lebensgemeinschaften in der Kinderliteratur, in denen beispielsweise die Mütter alkoholkrank und egozentrisch waren und die Väter abwesend oder glück- und arbeitslos, gehäuft. Es entwickelte sich zudem die Sick Lit, in der oftmals auch Eltern von Krankheiten betroffen waren. Wie wird heute im Kinderbuch das Bild von Familie präsentiert? Gibt es nach Jahren, in denen die Kinderbuchfamilien nicht intakt waren, einen Trend zu "normaleren" Familien?
Dröge: Familienportraits in Kinderbüchern sind immer ein Zeitzeugnis und spiegeln bestens gesellschaftliche Themen wider. Stand vor Jahren die Auseinandersetzung mit Problemthemen des Individuums im Vordergrund, ist es jetzt das Bedürfnis nach Geborgenheit innerhalb der Familie. Oft geht es dabei nicht nur um die Kernfamilie, sondern Großeltern spielen eine immer größere Rolle als Leit- und Vertrauenspersonen für die Kinder - oftmals, um die Abwesenheit von Eltern oder eines Elternteils aufzufangen. Dabei geht es nicht um die Darstellung einer gänzlich heilen Welt, aber ein fantastischer Kontext mit Wohlfühlatmosphäre scheint schwere Themen für die Zielgruppe leichter zu transportieren. Auch Humor ist ein zunehmend beliebtes Stilmittel. In verunsichernden Zeiten kann oder muss eben auch Kinderliteratur ein Rückzugsort sein.
Entspräche dieser Trend dem Wunsch, zerrüttete Familien hinter sich zu lassen?
Dröge: Aus meiner Sicht gibt es eine große Sehnsucht nach Geborgenheit. Da in der Corona-Zeit die Kontakte zur Peergroup zurückgefahren werden mussten und jetzt Kriege, Klimawandel und Inflation für Unsicherheit sorgen, ist Familie ein wichtiger, haltgebender Rückzugsort geworden.
Wie sehr wird damit die Realität gespiegelt?
Dröge: Laut Studien und Medienberichten hat die Zahl der Kinder mit gravierenden Lernproblemen, psychischen Problemen und Angststörungen in den letzten Jahren zugenommen. Die Scheidungsquote ist mit 35 % zwar im 20-Jahres-Vergleich eher niedrig, aber immerhin zerbricht jede dritte Ehe. Ich müsste mir weitere Statistiken ansehen, um beurteilen zu können, wie sich die Zahl alkoholkranker oder depressiver oder arbeitsloser Mütter oder Väter entwickelt haben. Aber ich gehe nicht davon aus, dass sich hier signifikant etwas geändert hat, weil sich meines Wissens bei den Therapieangeboten auch nichts Grundlegendes getan hat. Deshalb gehe ich davon aus, dass nicht die Familiensituationen, in denen Kinder aufwachsen, besser geworden ist, sondern sich der Umgang damit verändert hat: Eskapismus statt Auseinandersetzung und Aufarbeitung. Um sich nicht mehr so sehr mit der belastenden Wirklichkeit auseinanderzusetzen, die zurzeit mit Sicherheit größer ist als noch vor zehn Jahren, gehen Familien nun den Weg, sich in eine heile Welt zurückzuziehen und nicht jede Belastung innerhalb der Familie auszudiskutieren und zu problematisieren.
Welche Rolle spielt dabei das Buch?
Dröge: Meine Theorie ist, wie oben geschildert, dass die äußeren Faktoren, wie Kriege, Klima und Wirtschaft, die zunehmend als Bedrohung empfunden werden, das Bedürfnis nach Geborgenheit in der Familie erstarken lassen und dieses Bedürfnis nach heiler Welt durchaus auch mittels Kinderliteratur gestillt werden kann. Denn ja, auch Kinderliteratur hat eine Eskapismusfunktion.
Wie hat sich also das Bild der Familie in den vergangenen Jahren im Kinderbuch (im Vergleich zur Wirklichkeit) verändert?
Dröge: Familie als Ort der Geborgenheit, in der Respekt und Wertschätzung vorbildlich gelebt werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob Familie aus Mutter und Vater, zwei Vätern oder zwei Müttern oder auch nur einem Elternteil besteht. Es fällt auf, dass die Großeltern, oder ein Großelternteil, in vielen Geschichten eine größere Rolle spielen.