Während der Entstehung der Anthologie habe Mit-Herausgeber Valentin Moritz den Verlag über einen tatsächlichen Vorfall in Kenntnis gesetzt, räumt Kanon ein: "Er teilte mit, dass es eine Betroffene gebe und diese nicht wünscht, dass er einen Text über den Vorfall verfasse."
Moritz hätte dann angeboten, sich aus dem "Oh Boy"-Projekt zurückzuziehen. Die Herausgebenden und der Verlag hätten darauf intensiv darüber diskutiert, "ob es nicht doch einen Weg geben könnte, dem Nein der Betroffenen zu entsprechen und einen Text über ein Tabuthema zu ermöglichen, in dem es um Scham, Reue und Prägungen gehe. Solch einen Weg habe man im dann publizierten Text "Ein glücklicher Mensch" gesehen. "Doch dieser Weg erweist sich als nicht richtig", konstatiert der Verlag in seiner zweiten Stellungnahme. "Das ist uns, leider viel zu spät, klar geworden".
Man hätte den Wunsch der Betroffenen, den Vorfall in keiner Form aufzugreifen, auch nicht in einer fiktionalen, respektieren müssen. Für diese Fehlentscheidung und die dadurch entstandenen Verletzungen "möchten wir aufrichtig um Entschuldigung bitten" – besonders bei der Betroffenen. Mit ihr suche man, sofern sie noch dazu bereit sei, das Gespräch. Die Intention, männliche Täterschaft zu thematisieren, dürfe nicht dazu führen, dass die Betroffenenperspektive außen vor bleibe, überhört oder gar übergangen werde, betont der Kanon Verlag jetzt.
Schließlich reagiert der Verlag noch auf die Debatte und Kommentare in den Sozialen Medien: "Wir bedanken uns für die ausführlichen Kommentare und die Kritik, die uns in den letzten Stunden erreicht haben. Wir nehmen sie uns sehr zu Herzen für unsere zukünftige Verlagsarbeit".
Dennoch bleibt festzustellen, dass Verlag und Herausgebende hier auf Kosten einer Betroffenen ganz deutlich gezeigt haben, wann Männlichkeit toxisch ist.
Da wird das Nein der Betroffenen nach dem eigentlichen Übergriff ein zweites Mal ganz bewusst nicht respektiert. Das erste Statement, das 4 (vier!) Wochen nach einem entsprechenden Outcall der Betroffenen auf Instagram veröffentlicht wurde, stellt fest, dass es sich um Vorwürfe eines anonymen Profils handelt. Das framt die Betroffene als unglaubwürdig.
Dass der Text fiktional und literarisch sei – als ob es ein unglücklicher Zufall sei, dass sich eine Frau, der vom Autor Gewalt angetan wurde, da wiederfindet.
»Valentin Moritz hat in seinem Text einen Weg gewählt, eine Täterschaft zu thematisieren, ohne dabei auf ein konkretes Ereignis zu referieren oder mögliche reale Personen erkennbar zu machen. Wir bedauern es sehr, dass sich eine Person trotzdem in diesem literarischen Text wiedererkennt.
OH BOY will Diskurse und Debatten anstoßen und die Prinzipien männlicher Sozialisation hinterfragen. Dazu gehört es unser Ansicht nach auch, männliche Täterschaft zu thematisieren. Ob und wie über sexualisierte Gewalt aus Täterperspektive gesprochen werden sollte, ist ein hochkomplexe Frage, deren Beantwortung viel Schmerz verursachen kann. Aber die unserer Ansicht nach gestellt werden muss.« (https://www.instagram.com/p/CwDY6i9tGFO/)
Wessen Schmerz wurde denn da so intensiv betrachtet und in die "Abwägung" einbezogen? Bzw. wie kann da die Entscheidung sein, dass der Schmerz der Betroffenen, eine mögliche Re-Traumatisierung, weniger wiegt als der des Täters, der sich mit dem Geschehen auseinandersetzt?
Jetzt wird der Betroffenen ein Geprächsangebot gemacht. Das kommt etliche Monate zu spät.
Die erste Reaktion wurde am 17.08. veröffentlicht, das neue Statement am 18.08.
Ich möchte sehr gerne glauben, dass das neue Statement nicht allein dem kräftigen Gegenwind geschuldet ist, der dem Verlag und den Herausgebenden in den letzten Tagen entgegenkam, auch von anderen Autor*innen der Anthologie. Aber es fällt mir schwer, gerade weil so wenig Zeit zwischen der ersten, desaströsen Reaktion und dem jetzt veröffentlichten Statement vergangen ist.
Es wirkt, als sei die Hauptmotivation Schadensbegrenzung, nicht Erkenntnis.
Wir brauchen Bücher wie diese Anthologie dringend, aber für mich zumindest überstrahlt diese Sache leider das wichtige Anliegen der anderen Autor*innen des Buches.