Gastland-Serie: Auf einen Espresso mit ... Fabio Stassi

"Die Poesie ist in diesem Jahrhundert verschwunden"

23. Oktober 2024
von Börsenblatt

Kurz vor der Buchmesse wurde bekanntgegeben, dass Fabio Stassi den diesjährigen mit 20.000 Euro dotierten Hermann-Kesten-Preis des PEN-Zentrums Deutschland erhält. Am Verlagsstand erklärt er, wie nahe Dante der Gegenwart steht.

Fabio Stassi

Gerade ist Fabio Stassis Essayband "Ich, ja ich werd‘ Sorge tragen für dich. Kurze Abhandlung über Dante, die Dichtung und den Schmerz" (Edition Converso) erschienen. "Wenn Dichter und Schriftsteller ihre Stimme verlieren, oder wir, die Leser:innen, ihre Stimme nicht mehr hören oder den Dichtern nicht zuhören, dann werden Populisten, Demagogen und Diktatoren lauter und freier sprechen. Es ist die Stimme der Dichter, die Wahrheiten und ihre Zweifel daran verteidigt. Wenn wir die Dichter verlieren, haben Diktatoren leichtes Spiel."

Auf die Frage, wie sich Schriftsteller in Italien in der derzeitigen Lage verhalten sollen, sagt Stassi: "Vor wenigen Jahrzehnten blühte noch die Poesie in Italien mit Pasolini, Montale, Saba, Ungaretti, Quasimodo und vielen anderen. Aber das ist vorbei. Die Poesie ist in diesem Jahrhundert verschwunden. Wir haben nicht auf sie aufgepasst. Es gibt zwar heute Dichter, aber wir kennen sie kaum. Wir hören sie nicht. Was jetzt in der Politik geschieht, hängt meines Erachtens mit dem Verschwinden der Poesie zusammen, denn das poetische Wort ist das genaue Gegenteil der Sprache der Demagogen. Letztere vereinfacht, richtet sich an die niedrigsten Instinkte der Menschen, richtet sich an den Geldbeutel der Bürger und will Angst in ihnen wecken. Die Dichter aber sprechen von Mut. Dante selbst sprach von Mut, als er schrieb: 'Farei parlando innamorar la gente', dass er also den Mut haben möchte, dichtend die Menschen zur Liebe zu führen."

Die Demagogen in Italien würden mit ihren Reden auf die Gefühle der Vorletzten zielen und in ihnen Aggressionen gegen die Letzten wecken, gegen die Migranten, so Stassi. "Ihr verliert eure Arbeit, weil die aus dem Ausland kommen, behaupten die Rechten." Aber diese Migranten seien verzweifelt. Geschürt würden auch Ängste gegen das Anderssein, gegen Minderheiten mit anderer sexueller Orientierung. Stassi erinnert daran, dass bei den Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten in Berlin "wider den undeutschen Geist" im Mai 1933 die 1919 von Magnus Hirschfeld gegründete Bibliothek des Instituts für Sexualforschung vernichtet wurde. "Heute werden in Italien von der Meloni-Regierung dieselben Schlüsselwörter verwendet wie unter den Faschisten. Was können wir dagegen unternehmen? Das Lesen selbst scheint mir ein Akt der Unabhängigkeit und des Protests zu sein. In Spanien sagt man: 'Rebellieren lernt man lesend'."