Der folgende Textauszug stammt aus Andrea Gerks Buch "Ich bin da mal raus. Ideen gegen den Optimierungswahn", das am 11. Mai bei Kein & Aber erscheint.
"Für ein durchoptimiertes Leben scheint es ungeheuer wichtig zu sein, bei jeder Gelegenheit Zeit zu sparen. Statt einfach am Bahnsteig zu stehen und auf die S-Bahn zu warten, tüftelt ein guter Bekannter von mir permanent mittels seiner BVG-App aus, welche Verbindung die schnellste ist und aus welchem Wagen der Übergang an der Umsteigestation am kürzesten ist, sodass es vollkommen unmöglich ist, mit ihm ein nettes Gespräch zu führen, die Leute zu beobachten oder die Gedanken schweifen zu lassen. Selbstverständlich ist dieser Bekannte auch überzeugter Kurzstreckenflieger, absolviert mit Begeisterung diverse Warteschlangen am Flughafen und lässt von genervten Sicherheitsleuten seine Schmutzwäsche inspizieren, anstatt in einen Zug zu steigen und dort stundenlang zu tun, wozu man Lust hat, also lesen, aus dem Fenster schauen, in den Speisewagen gehen oder mit Zufallsbekanntschaften plaudern.
Bei all den Diskussionen, die ich mit solchen Flugzeugverfechtern bereits geführt habe, amüsiert es mich immer wieder, dass das Argument, man spare ungeheuer viel Zeit, jeden Einwand sticht, so als wäre Zeitersparnis der höchste Anspruch an sich und das Leben.
Es ist schon eine Weile her, dass Michael Ende in seinem Roman Momo die bösen grauen Herren, die den Menschen die Zeit stehlen, ins Spiel brachte und eindrücklich zeigte, dass das Leben nicht unbedingt schöner wird, wenn man sich abends nicht mehr die Zeit nimmt, am Fenster zu stehen und über den Tag nachzudenken oder seine alte Mutter zu besuchen und ein paar Stunden bei ihr herumzusitzen. Dabei gab es, als Momo uns auf sympathische Weise ermahnte, das bisschen Lebenszeit, das jeder auf seinem Konto hat, doch einfach zu genießen, noch gar keine Computer, die jeder in der Hand- oder Hosentasche mit sich herumträgt und die all die gesparte Zeit wie gierige kleine Haustiere auffressen, ohne einen Krümel übrig zu lassen.
Längst hat sich die Idee der Sparsamkeit auch auf andere Bereiche wie Aufmerksamkeit und Ausdrucksweise ausgedehnt, etwa wenn ganze Elterngenerationen lieber ins Handy schauen anstatt ins Gesicht ihres Babys, das vor ihrer Nase im Kinderwagen sitzt, oder elektronische Nachrichten in einer aus diesen Medien selbst generierten Abkürzungsmanie verfasst werden, deren Nutzen sich nicht unmittelbar erschließt. Oder was bringt es, wenn man, wie es ein Kollege tut, seine E-Mails mit der Verabschiedungsformel »Herzl. Grüße« beendet?"