"Wie wollen wir leben?" (15)

"Ackerflächen können Wildnis werden"

8. Februar 2021
Redaktion Börsenblatt

Nach den Erfahrungen der vergangenen Monate ist die Frage "Wie wollen wir leben?" drängender denn je. Welche Denkanstöße dazu in Frühjahrsnovitäten zu finden sind, zeigen wir in einer Folge, die auch Anregung für einen Büchertisch sein kann. Die heutige Antwort kommt von Oliver Stengel, der an der Hochschule Bochum zu globalen Transformationen und nachhaltiger Entwicklung forscht (Oekom Verlag).

Die folgende Textpassage stammt aus Oliver Stengels neuem Buch „Vom Ende der Landwirtschaft: Wie wir die Menschheit ernähren und die Wildnis zurückkehren lassen. Plädoyer für eine Postlandwirtschaftliche Revolution“, das am 9. Februar im Oekom Verlag erschienen ist.

"Die »Erfindung« und Weiterentwicklung der Landwirtschaft hat es möglich gemacht, dass die Menschheit zu einer Masse von acht Milliarden Individuen mit einem Gesamtgewicht von ca. 480 Millionen Tonnen angeschwollen ist (bei einem Durchschnittsgewicht von etwa 60 Kilo) und obendrein stets massiger wird. Denn es wächst nicht nur die Weltbevölkerung numerisch, es wächst auch der durchschnittliche Bauchumfang der Menschen weltweit. Aber wie sollen zehn oder elf Milliarden pummeliger werdende Menschen miteinander und auf der Erde leben, ohne diese weiter zu schädigen? […]

Seit Jahrtausenden schaffen und erhalten Bauern Areale ohne Natur. Sie vertreiben Bäume und Büsche, Pilze, Wirbellose und Wirbeltiere von ihren Feldern, und sie verdrängen viele Pflanzenarten aus ihren Lebensräumen, indes sie wenige Sorten von Nutzpflanzen auf enormen Flächen verbreiten. Weite Felder machten die Menschen satt, doch je mehr Menschen lebten, desto weiter mussten die Felder werden, desto mehr urtümliche Lebensräume mussten zerstört werden, desto kleiner und zerstückelter und feindlicher wurden Biome für viele Arten. […] Die so von Menschen gestaltete Welt stirbt, weil immer weniger Arten auf ihr leben können. […]

Die Land- und Viehwirtschaft sind das Problem, das gelöst werden muss, wenn die Entwicklung der Menschheit nicht gefährdet werden soll. Und das Problem kann nur hinreichend gelöst werden, wenn die Land- und Viehwirtschaft, wie wir sie heute kennen, zu existieren aufhören. […]

Nun kann man Fleisch ohne Tiere herstellen, indem man Tieren Zellen entnimmt und diese so lange vermehrt, bis man genug von ihnen zusammen hat, um sie z.B. zu einer Frikadelle zusammenzupressen. Als Ergebnis hat man ein naturgleiches Produkt auf unnatürliche Weise hergestellt. […]

Und warum nicht der Absurdität entkommen, eine ganze Kartoffelpflanze zu züchten, nur um deren unterirdische Knolle ernten zu können? Warum sollte man die Knolle nicht separat in einem geeigneten Medium züchten können? Diese im Medium wachsende Knolle müsste sich dabei nicht vom Naturprodukt unterscheiden. Ackerflächen würden zunehmend überflüssig und können Gärten oder Wildnis werden. Wenn die Menschheit mit ihrer Welt zurechtkommen möchte, muss der größte Teil dieser Fläche wieder werden, was er einst war, und dazu braucht es die Postlandwirtschaftliche Revolution."