10.000 im Bann der Verse
Eine Woche im Zeichen der Poesie – in diesem Jahr wieder live vor Ort: Die Veranstalter des poesiefestivals berlin ziehen eine positive Bilanz. Der Ukraine-Krieg wurde eines der bestimmenden Themen.
Eine Woche im Zeichen der Poesie – in diesem Jahr wieder live vor Ort: Die Veranstalter des poesiefestivals berlin ziehen eine positive Bilanz. Der Ukraine-Krieg wurde eines der bestimmenden Themen.
Zum 23. poesiefestival berlin (17.–23. Juni) kamen 10.000 Besucher:innen in die Akademie der Künste am Hanseatenweg, meldet das Haus der Poesie als Veranstalter. Nach zwei Jahren fand das Festival endlich wieder live statt. Rund um das Festivalmotto ALL THAT POETRY organisierte man zusammen mit mehr als 70 Partnern über 40 hochkarätige Veranstaltungen. Und wieder sei es ein politisches Festival geworden. "Wir hatten eigentlich nach zwei Jahren Pandemie und viel Streit in Europa einen ästhetischen Fächer aufmachen wollen", sagt der Festivalleiter Thomas Wohlfahrt. "Dann überfiel Russland die Ukraine und der Referenzrahmen wurde ein komplett anderer."
Die ukrainische Dichterin Halyna Kruk hielt eine eindrucksvolle Eröffnungsrede. "Gegen Leute mit Maschinengewehren helfen keine Metaphern, wenn dein Auto, mit dem du und deine Kinder dem Krieg zu entfliehen versucht, von einem Panzer überrollt wird, hilft keine Dichtung. Wenn du tagelang vor dem verschütteten Keller eines Hochhauses ausharrst und hörst, wie drinnen deine Kinder und Enkel schreien, du sie aber nicht rausholen kannst, ist Poesie fehl am Platze." Beim darauffolgenden Weltklang – Nacht der Poesie lasen neben ihr Raymond Antrobus (Großbritannien), Augustìn Fernández Mallo (Spanien), Dorothea Grünzweig (Deutschland), Mihret Kebede (Äthiopien), Kim Yideum (Süd-Korea), Wulf Kirsten (Deutschland), Aleš Šteger (Slowenien) und Julia Wong Kcomt (Peru).
Der aus dem Kongo stammende Autor Fiston Mwanza Mujila ("Tram 83") kuratierte mit "Die Traumfabrik" einen Afrika-Abend, der größtenteils diasporaerfahrene Dichter:innen, Musiker:innen und Wissenschaftler:innen eine Poetische Kartographie von Afrikas neuer Urbanität abseits der typischen Stereotype entwerfen ließ.
Eine poetische Liebeserklärung an Berlin und seine Vielsprachigkeit sei die traditionelle Berliner Rede zur Poesie gewesen: Mit Schriftrolle in ihren Händen lieferte Michèle Métail eine beeindruckende Performance, die sie auf Deutsch unter dem Titel "Die Zwischensprache" hielt. "Wörter wandern, sie verwandeln sich. Sie überschreiten alle Grenzen. Sprache ist Bewegung." Als Buch erschienen ist die Rede im Wallstein Verlag.
Ein bedrückendes Bild zur Lage in Belarus habe die Anthologie der Dichterinnen mit sechs belarussischen Autorinnen, die nur noch zum Teil in ihrem Heimatland leben, und ihrer mutigen Verlegerin Alena Kazlova gezeichnet. "Jetzt, wo Russland Krieg in der Ukraine führt, ist Belarus nicht mehr auf der Tagesordnung", sagte die queere Dichterin Nasta Mancewicz in einem Interview. "Mir kommt es vor, als befänden wir uns in einer unsichtbaren Zone."
Vorgestellt wurde auch Persische Lyrik im europäischen Exil, basierend auf der von Ali Abdollahi und Daniela Danz herausgegebenen Anthologie "Kontinentaldrift. Das persische Europa" (Wunderhorn 2021). Die Reihe "Kontinentaldrift" begann 2021 mit "Das schwarze Europa". Jetzt wird bereits am neuen Band "Das arabische Europa" gearbeitet.
Das Festival fand seinen Abschluss bei der Bühnenpremiere von Aras Örens erschreckend aktuellen Langpoemen ("Berliner Trilogie"). Die Festivalausstellung "AI ANCESTORS – Making Kin in the Future" erkundete die Schnittstelle zwischen Algorithmen und Poesie. Und das Programm der Poetischen Bildung sei so umfangreich wie nie zuvor gewesen.
Vorangegangen waren dem Festival fünf Tage "Poets' Corner – Lyrik in den Bezirken", traditionell die Bühne für internationale junge lyrische Stimmen aus Berlin.
Das poesiefestival berlin ist seit 2022 Mitglied der europäischen Poesieplattform Versopolis.