Interview mit Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes

"KI ist kein Zauberinstrument"

7. März 2024
Michael Roesler-Graichen

Künstliche Intelligenz in der Schule kann hilfreich sein - wenn sie von didaktisch kompetenten Lehrkräften zielgenau eingesetzt wird. Susanne Lin-Klitzing, die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, über den sinnvollen Einsatz neuer Technologien, über die Rolle des Schulbuchs und über den Digitalpakt 2.0.

Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing

Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes (DPhV)

Erwarten Sie von KI-Tools im Unterricht die große Entlastung, die die Produzenten versprechen?
Susanne Lin-Klitzing: Eine datenschutzkonforme KI-Anwendung kann als ein mögliches Instrument Lehrkräfte im Unterricht entlasten. Es ist aber nicht das Zauberinstrument, und Voraussetzung dafür sind – das muss unbedingt für Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler geklärt sein – der Datenschutz und die Einhaltung der Persönlichkeitsrechte. Das ist noch nicht ausreichend geklärt.

Welche didaktischen Möglichkeiten bieten die KI-Tools?
Lin-Klitzing: Die Didaktik wird nicht durch KI per se verbessert. Die mündige Lehrkraft setzt Lernziele und Inhalte und weiß, mit welchen Medien und Methoden sie diese erreichen will. Wenn eines dieser Mittel für sie ist, beispielsweise mit Arbeitsblättern zu arbeiten, um im Französischen das Passé composé vom Imparfait zu unterscheiden, und sie genau für diesen Zweck die KI nutzt, dann kann ihr die KI entsprechend helfen, beispielsweise aus digital verfügbarem Schulbuchmaterial Arbeitsblätter auf verschiedenen Niveaus zu erstellen. Aber die KI macht aus der Lehrkraft keinen besseren Didaktiker, sondern die Lehrkraft als Didaktiker setzt die Ziele und schaut: Was gibt es an Anregungspotenzial für mich aus dieser KI für diese ganz bestimmte Klasse, die vor mir sitzt?

KI und digitale Unterrichtsmedien stehen derzeit im Fokus. Viele andere Themen rund ums Lernen werden ausgeblendet oder unterdimensioniert. Werden digitale Medien im Unterricht generell überschätzt?
Lin-Klitzing: Grundsätzlich sprechen wir uns für einen klug digital unterstützten Präsenzunterricht aus. Das bedeutet zunächst: Die Lehrkraft ist vor Ort, und es gibt vernünftige Räumlichkeiten. Digital unterstützt heißt: digitale Unterstützung an den Stellen, die die Lehrkraft als wichtig und richtig beurteilt. Und klug bedeutet: fachlich und fachdidaktisch angemessen. Das sind grundsätzliche Voraussetzungen, die mit oder ohne Digitalisierung zu betrachten sind. Und sosehr ich auf der einen Seite froh bin, dass es Möglichkeiten gibt, Lehrkräften weitere Anregungen zu geben, sosehr muss ich auf der anderen Seite sagen: Jetzt wird von Entlastung der Lehrkräfte gesprochen, wo es den Hype der Digitalisierung gibt. Das sollte man aber auch tun, wenn es gerade kein Hype ist: indem man das Stundendeputat der Lehrkräfte heruntersetzt, damit sie besseren Unterricht machen können.

KI sollte das Schulbuch nicht ersetzen, aber nur das Schulbuch allein hilft uns nicht für alles.

Susanne Lin-Klitzing

In Schweden und anderen skandinavischen Ländern hat man sehr stark auf digitalisierte Unterrichtsmedien gesetzt. Nach dem Bekanntwerden einer Studie über den unterdurchschnittlichen Lernerfolg bei digitalen Medien hat man jedoch eine Kehrtwende vollzogen und wieder gedruckte Schulbücher eingeführt. Bleibt das gedruckte Schulbuch auch unter KI-Bedingungen das Ankermedium im Unterricht?
Lin-Klitzing: Ich halte Schulbücher für unersetzbar. Gleichwohl gehe ich mit der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK), die sagt, es wäre klug, sich ab der Mittelstufe mit der KI zu beschäftigen. Schülerinnen und Schüler sollten sich auf das Leben außerhalb der Schule vorbereiten und zum Beispiel „Prompten“ lernen. Aus meiner Sicht schließt das eine das andere nicht aus. KI sollte das Schulbuch nicht ersetzen, aber nur das Schulbuch allein hilft uns nicht für alles.

An der Art und Weise, wie Schülerinnen und Schüler prompten, kann die Lehrkraft sehen, wie präzise das Vorwissen ist, um einen Prompt so zielgenau zu formulieren, dass auch die erwarteten Ergebnisse produziert werden.

Susanne Lin-Klitzing

Für Schülerinnen und Schüler muss es also dazu gehören, sich mit dem Thema KI zu beschäftigen, weil es Teil ihres Alltags und ihres Berufslebens sein wird …
Lin-Klitzing: Absolut. Ich würde es aber auch noch mal inhaltlich unterlegen: An der Art und Weise, wie Schülerinnen und Schüler prompten, kann die Lehrkraft sehen, wie präzise das Vorwissen ist, um einen Prompt so zielgenau zu formulieren, dass auch die erwarteten Ergebnisse produziert werden. Ich würde es also nicht nur in dem Sinne sehen: „Wir bereiten uns auf das Leben außerhalb vor“, sondern die Art und Weise, wie mit KI umgegangen wird, kann etwas über den Lern- und Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler aussagen. Da muss man dann anknüpfen und entsprechend fordern und fördern.

Als Philologenverband sieht man sich auch in der Rolle eines Fürsorgers für die Lehrkräfte. An welcher Stelle – ganz unabhängig vom Thema Digitalisierung – brauchen Lehrer am meisten Entlastung?
Lin-Klitzing: Neben der Senkung des Unterrichtsdeputats wäre das vor allem die Entlastung von allen unterrichtsfernen Tätigkeiten und von allem, was andere erledigen könnten. Lehrkräfte brauchen Zeit für den Unterricht, brauchen Zeit für ihre Schülerinnen und Schüler. Sie sollen ihre Zeit nicht damit verbringen, Kinder abzufragen, ob sie geimpft sind, ob das Geld für die Klassenfahrt überwiesen ist, oder ob die Datenschutzerklärung unterschrieben ist. Ganz viele Schulverwaltungsaufgaben müssen durch Schulverwaltungskräfte erledigt werden.

Also fehlen in Deutschland nicht nur Lehrkräfte, sondern auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für administrative Aufgaben …
Lin-Klitzing: Genau. Das heißt auch: Wenn wir sinnvoll mit Digitalisierung umgehen wollen, dann brauchen wir auch einen professionellen IT-Support an den Schulen – und nicht die Mathematik-Lehrkraft, die in zwei Extrastunden die IT der ganzen Schule wuppt.

Wenn wir sinnvoll mit Digitalisierung umgehen wollen, dann brauchen wir auch einen professionellen IT-Support an den Schulen – und nicht die Mathematik-Lehrkraft, die in zwei Extrastunden die IT der ganzen Schule wuppt.

Susanne Lin-Klitzing

Nun kommt erschwerend hinzu, dass die Länder mit dem Austritt aus dem Digitalpakt 2.0 drohen, wenn die Finanzierung nicht zugunsten der Länder besser geregelt wird. Wie beurteilen Sie die Lage?
Lin-Klitzing: Wir brauchen den Digitalpakt 2.0 und wir brauchen bereits jetzt Vorüberlegungen, wie die Lücke zwischen dem Ende des ersten Digitalpakts und dem neuen Digitalpakt geschlossen werden kann. Denn wenn sich die Schulleitungen mit ihren Schulträgern darum gekümmert haben, dass endlich nachhaltig digitale Endgeräte beschafft werden, und die Finanzierung bricht zwischendurch weg, dann stehen sie wieder am Anfang. Es wäre eine grobe Vernachlässigung dessen, was den Schulen versprochen wurde, wenn jetzt keine Anschlussfinanzierung erfolgte. Das betrifft nicht nur die Hardware, sondern auch die professionelle IT-Administration – und es betrifft auch Geld für zertifizierte Inhalte und für Software. Wenn sich die Länder für bestimmte Schulbücher entscheiden, muss es auch geschützte und geprüfte digitale Inhalte geben.

Über den Deutschen Philologenverband

Der Deutsche Philologenverband ist die Dachorganisation der Philologenverbände der Bundesländer. Die Mitglieder in den Philologenverbänden sind Lehr­kräfte an Gymnasien, Sekundarschulen und anderen Bildungseinrichtungen, die zum Abitur führen, sowie Lehrbeauftragte an den Hochschulen, vornehmlich in der Lehrerbildung. Der Verband wurde 1903 in Halle gegründet und organisiert zurzeit 90.000 Einzelmitglieder in 15 Landesverbänden.