Nationaler Lesepakt

"Ja - das alles kostet Geld"

20. Mai 2021
Redaktion Börsenblatt

20 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind partielle Analphabeten: Wie kann man sie erreichen? Erfahrungen von Leseförder-Expertin Heidemarie Brosche.

Die Plakate und Anzeigen des Nationalen Lesepakts enden allesamt mit dem munteren Aufruf "Machen Sie mit!". Ich weiß nicht genau, wer hier wie mitmachen kann, soll und will. Aber ich weiß ziemlich gut, was mein Part sein kann: vehement auf das hinweisen, was mich meine eigene berufliche Erfahrung – inklusive aufmerksamer Blicke über diverse Tellerränder – gelehrt hat:

1. Ich bin ziemlich sicher, dass unter denen, die die Anzeigenkampagne bewusst verfolgen, keinerlei Dissens herrscht: Natürlich sollen alle, vor allem aber die eigenen Kinder mit der Superkraft Lesen gesegnet sein! Manche sind vermutlich entzückt, wie gut die Leselust-Saat bei ihrem Nachwuchs aufgegangen ist, manche entsetzt, wie wenig all das Säen, Düngen und Hegen bewirkt hat. Denn ja, auch Kinder von Lesenden lesen nicht automatisch gerne und gut. Was der Lesefreude im Wege steht, kann vielerlei sein und es lohnt sich, hier genauer hinzusehen. Eines aber gilt: Wer selbst das Lesen wichtig findet und gerne praktiziert, gibt seinem Kind etwas mit auf den Weg, was ihm keiner mehr nehmen kann: ein Gefühl für den Wert des Lesens. All diese Kinder, die trotz guten Bemühens keine Gut- oder Gerne-Leser*innen geworden sind, werden durch ihre Eltern und andere Gut- und Gerne-Leser*innen, die ihren Weg begleiten oder kreuzen, immer wieder ganz nebenbei zum Lesen hingeführt.

2. Von diesen Kindern rede ich hier und jetzt nicht! Ich rede von den ca. 20 % der Kinder und Jugendlichen, die man so schön partielle Analphabeten nennt. Die auch Kirsten Boie meinte, als sie ihre ambitionierte Aktion "Jedes Kind soll lesen lernen" ins Leben rief. Von denen ich viele tagein, tagaus vor mir und um mich hatte, als ich noch unterrichtete. Deren Realität so aussieht:

  • Sie haben keine Lese-Vorbilder.
  • Ihnen wird nicht vorgelesen.
  • Ihnen steht zu Hause kein Lesestoff zur Verfügung.
  • Das Lesen hat in ihren Familien keinen hohen Stellenwert.
  • In ihren Familien gibt es meist andere Sorgen als das Lesen.
  • Ihre Eltern sind oft selbst "bildungsfern" aufgewachsen.
  • Ihre Eltern sind manchmal selbst partielle oder komplette Analphabeten.
  • Ihre Eltern kommen – nicht nur, aber auch – aus Kulturen, in denen das "Lesen" nicht so positiv bewertet wird wie bei uns.
  • Sie sind oft besonders heftig dem Sog der Medien ausgeliefert.

3. Wer bereit ist, den Unterschied zwischen den unter 1. und 2. genannten Kindern zu erkennen, wird zugeben, dass mit dem Gießkannenprinzip hier nichts zu holen ist. Will man diese 20 % wirklich fürs Lesen gewinnen, muss man genau sie und ihre Realität vor Augen haben.

4. Stellschrauben, an denen gedreht werden kann, sind vorschulische Einrichtungen und Schule. Auch der passende Lesestoff kann etwas bewirken. Und schließlich sollten auch die Eltern nicht übersehen werden.

5. Gleich mal zu den Eltern:

  • Wenn wir uns vorstellen, unseren eigenen Kindern würden im Unterricht ständig Leistungen abverlangt, deren Wert wir nicht sehen und die wir selbst nicht erbringen können, kann sich Empörung schon mal zu Verständnis wandeln.
  • Eltern kann nicht verordnet werden, lesefördernd auf ihr Kind einzuwirken. Aber über Menschen, zu denen sie vertrauensvoll eine Beziehung aufbauen, ist mit Beharrlichkeit viel zu erreichen, wie Beispiele aus der Stadtteilmütter-Arbeit zeigen. Da erkennen Mütter auf einmal doch, dass es schön sein kann, den eigenen Kindern Bücher vorzulesen (sofern sie das beherrschen). Da wird die öffentliche Bücherei auf einmal doch zu einem guten Ort. Da verstehen Eltern auf einmal doch, wie wichtig sie selbst und das Lesen für die schulischen Fortschritte ihres Kindes sein können.

6. In den vorschulischen Einrichtungen müssen Sprachbildung, Wissenserweiterung und Vorlesefreude einen noch höheren Stellenwert bekommen. Dazu braucht es mehr fachkundiges Personal.

7. In der Schule ...

  • muss das A und O ein genauerer Blick auf die Gründe für Leseschwierigkeiten sein. Es gibt so vieles, was gutes Lesenlernen verhindert. Für diese Diagnostik brauchen Lehrkräfte Unterstützung.
  • Für die Leseförderung – gerade auch der 20 % – steht inzwischen zwar ein vielseitiges Methoden-Repertoire aus Laut- und Leiseleseverfahren zur Verfügung, aber damit dies auch erfolgreich zum Einsatz kommen kann, brauchen Lehrkräfte Unterstützung.
  • Die Brisanz des Leseselbstkonzeptes der Schüler*innen darf niemals aus dem Auge verloren werden. Sobald sie sich – aufs Lesen bezogen – noch mieser fühlen als vor einer Aktion, geht der Schuss nach hinten los: Das Leseselbstkonzept rutscht wieder ein Stückchen weiter in den Keller – bis zur festen Überzeugung: Ich bin einfach kein*e Leser*in! Das Gegenteil muss der Fall sein: Subjektive Fortschritte müssen spür- und sichtbar werden. Zum Beispiel über das Messen der gesteigerten Lesegeschwindigkeit. Auch hier könnten Lehrkräfte Unterstützung brauchen.
  • Wenn es um das Leseverständnis geht, können die Erkenntnisse zum sprachsensiblen Fachunterricht helfen. Da diese nicht leicht umzusetzen sind, könnten Lehrkräfte und Schüler*innen von Unterstützung profitieren.
  • Angemessener Lesestoff ist wichtig! Niemand mag etwas lesen, das ihn überfordert oder langweilt. Bei der Produktion sind Autor*innen und Verlage, bei der Verbreitung Buchhandel und Büchereien gefragt. Alle brauchen dazu Knowhow, was die Zielgruppe der 20 % betrifft. Bei der Auswahl passender Lektüre können Lehrkräfte Unterstützung brauchen.
  • ·Schulische Aktionen, die nach Lesemotivation aussehen, können bei den 20 % eine Verschlechterung ihres Leseselbstkonzeptes bewirken, weil sie ihnen ihre Schwächen überdeutlich vor Augen führen. Dies können Vorlesewettbewerbe ebenso sein wie Lesenächte. Auch Autorenlesungen sind nicht automatisch ein Garant für Leseförderung, aber sie können es sein. Damit hier nicht bei bestem Willen Schlechtes angerichtet wird, wäre fachkundige Unterstützung willkommen.

8. Viele außerschulische Angebote, die sich auch an die 20 % richten, haben weniger Erfolg, als man sich vorstellen mag:

  • Ein geschenktes Buch führt nicht automatisch zu (Lese-)Freude.
  • Einrichtungen wie Leseclubs lösen nicht das Problem. Wenn es gut geht, wird – und das ist nicht zu unterschätzen – die Beziehung der Kinder zum Lesen verbessert. Auch Sprachförderung geschieht hier, wenn gut gearbeitet wird. Aber es werden mithilfe eines Leseclubs nicht all die Kinder bessere Leser*innen, die es dringend werden müssten.

9. Und jetzt nähern wir uns dem "Höhepunkt": Was kann ein Nationaler Lesepakt hier leisten? Viel, sehr viel! Denn all das, was oben beschrieben wurde, gibt es nicht umsonst.

Man könnte und sollte also …

a. Menschen – im Peer-to-Peer-Sinne besonders gerne auch mit Migrationshintergrund – dafür bezahlen, dass sie mit den Eltern vertrauensvoll und kundig neben der Schule zusammenarbeiten.

b. Menschen dafür bezahlen, dass sie Lehrkräfte bei der Diagnostik unterstützen.

c. Menschen dafür bezahlen, dass sie Lehrkräften zur Seite stehen, wenn es darum geht, passende Methoden anzuwenden, achtsam mit dem Leseselbstkonzept der ihnen anvertrauten Schüler*innen umzugehen und subjektive Fortschritte sichtbar zu machen.

Die Dienstleistungen b) und c) könnten in Personalunion von gut ausgebildeten externen Leseförder-Fachkräften an Schulen mit Bedarf ausgeübt werden.

Zusätzlich könnte man Lehramtsstudierende dazu verlocken, das nötige Wissen in – auf die Zielgruppe ausgerichteten – Lehrveranstaltungen zu erwerben und dies praktisch an Schulen mit Bedarf anzuwenden, wofür sie entweder im Rahmen ihres Studiums oder mit barer Münze belohnt werden würden. Dies hätte zur Folge, dass unter künftigen Lehrkräften immer mehr wären, die etwas von Leseförderung für die Zielgruppe verstehen und dies an ihre Kolleg*innen weitergeben könnten, wofür sie wiederum mit Anrechnungsstunden belohnt werden würden. So könnten sich wichtige Kenntnisse in der Lehrerschaft verbreiten und weiterhin externe Fachkräfte unterstützend wirken.

Dazu käme, dass die Eltern dank guter, bezahlter "Elternarbeit" (siehe oben) die Forderungen der Schule zunehmend besser verstehen und so zu Unterstützern ihrer Kinder werden könnten.

Achtung: Nur über vorschulische Einrichtungen und Schule sind die 20 % angemessen und nachhaltig zu erreichen!

Und noch mal Achtung: Bis hierher hat das alles richtig Geld gekostet. Gut angelegtes Geld!

Zusätzlich, aber nur zusätzlich, wären ehrenamtliche Lesementoren und -paten ebenso herzlich willkommen wie ehrenamtliche Stadtteilmütter.

Bei einer so wichtigen gesellschaftlichen Aufgabe nur aufs Ehrenamt zu setzen – das halte ich für fast schon fahrlässig.

Insofern: Machen Sie alle mit, die es wirklich ernst meinen mit den 20 %! Machen Sie alle mit, die Sie als Sponsoren so hübsch aufgelistet sind! Dann, ja dann haben wir wirklich eine Chance.

Heidemarie Brosche

Heidemarie Brosche war bis bis vergangenes Jahr Lehrerin an einer Brennpunktschule. Außerdem ist sie Kinder-, Jugend- und Sachbuchautorin: www.h-brosche.de. Für ihr Engagement für Leseförderung und Bildungsgerechtigkeit wurde sie 2020 mit dem Volkacher Taler der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet.