Gastland-Serie: Auf einen Espresso mit ... Francesca Melandri

"Italien und Deutschland verbindet so viel"

19. Oktober 2024
Nicola Bardola

Laut NZZ  ist sie "das literarische Gewissen Italiens": Francesca Melandri hat einen aufwühlenden Roman über ihren Vater und die Ukraine geschrieben, freut sich über die differenzierte Literaturkritik und erklärt, warum der Gastland-Auftritt anders hätte ausfallen können.

Francesca Melandri am Wagenbach-Stand

Die deutsche und die italienische Ausgabe der persönlichen Spurensuche "Kalte Füße" (Wagenbach), (im Original: "Piedi freddi", Bompiani) sind erst vor etwa zwei Wochen erschienen. Die Resonanz ist groß, und Francesca Melandri betont die Qualität der Reaktionen: "Ich freue mich sehr, dass schon so viele und durchwegs positive Besprechungen erschienen sind, sowohl in Italien als auch hier. Was mich noch mehr freut, ist die Art, wie rezensiert wird: In fast allen Texten wird deutlich, dass die Literaturkritiker sich intensiv mit dem Buch beschäftigt haben. Da ist nichts Oberflächliches, und das ist keine Selbstverständlichkeit, denn auch bei Lobeshymnen kommt es vor, dass sie hohl und seicht sind. Das berührt mich, vielleicht auch weil mein Buch über meinen Vater so persönlich ist und die Kritiker offenbar so 'betroffen' sind."

"Betroffen", sagt Melandri auf Deutsch. Die Geschichte ihres 1919 geborenen Vaters Franco Melandri, der selbst Autor und Journalist war, wühlt Leser:innen in Italien und in Deutschland auf, denn Papa war als Faschist und Nazi-Verbündeter an der Ostfront auf der Täterseite: Die Anekdoten, die in der Familie unter dem Stichwort "Papa in Russland" kursierten, wurden nach seiner Rückkehr mit den Jahrzehnten immer harmloser. Nun bringt die Tochter Wahrheiten über die tatsächlichen Ereignisse ans Licht und verbindet sie mit dem heutigen Ukraine-Krieg, dem Auslöser für dieses Buch, denn der Vater war hauptsächlich in der Ukraine eingesetzt. "Italien und Deutschland verbindet so viel. Die Länder schauen sich an, vergleichen sich. Dieses Buch arbeitet ein Stück Geschichte auf, in dem beide Nationen auf ähnliche Weise beteiligt waren. Wir Italiener sind nicht bis nach Stalingrad gekommen, aber die Ukraine war einer der  Hauptkriegsschauplätze mit den Angreifern und Tätern, den Achsenmächten Italien und Deutschland."

Mit dem Schriftsteller Fabio Stassi ist Melandri im Gastland-Pavillion unter dem Titel "Literatur, die heilt und nicht vergisst" aufgetreten. "Vom Pavillion habe ich nicht viel gesehen. Aber das sage ich jetzt wirklich von Herzen: Die Möglichkeit, die Italien erhalten hat, als Gastland in Frankfurt am Main aufzutreten, die hat ein großes Loch in der Mitte. Und das macht uns alle sehr traurig. Aber es freut mich, das hier nun zu erwähnen: Es geht um Luigi Reitani. Er war Literaturwissenschaftler, Übersetzer und ein herausragender Germanist. Er hat beispielsweise über einen Zeitraum von 20 Jahren die Werkausgabe der Lyrik Friedrich Hölderlins ediert. Zudem war er viele Jahre Leiter des Italienischen Kulturinstituts in Berlin. Wir waren alle überzeugt, dass er der ideale Leiter unseres Gastland-Auftritts sein würde. Aber dann ist er leider 2019 mit 62 Jahren an den Folgen von Corona gestorben. Wir vermissen ihn sehr. Er hätte unserem Auftritt eine ganz andere Qualität verliehen, auch dem Pavillion."