Die Messe der Meinungsfreiheit – ein Kommentar

Im Recht und auf verlorenem Posten

26. Oktober 2021
Torsten Casimir

Mit ihrer Absage von Lesungen fanden Antirassismus-Aktivistinnen hohe Beachtung in den Medien – sehr zur Freude von Rechtsauslegern, gegen deren Anwesenheit auf der Messe sich der Protest richtete. Das Desaster wäre vermeidbar gewesen. Ein Kommentar von Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir.

Diese 73. Frankfurter Buchmesse hatte Wichtigeres zu bieten, als es der mediale Lärm um einen kleinen rechten Verlag vermuten lässt. Sie gab Fachbesuchern Gelegenheit zum lang herbeigewünschten Wiedersehen. Sie festigte die Erkenntnis, dass persönliche Begegnungen im Buchgeschäft nicht substituierbar sind. Sie brachte digitale und hybride Formate mit ermutigenden Reichweiten an den Start. Sie führte den Beweis, dass der Ausstieg aus Hochgeschwindigkeitstaktungen einen Gewinn an Business-Qualität mit sich bringen kann. Und sie setzte ihren Weg hin zu einem Bücherfest fort, dessen Publikumsseite immer wichtiger wird: Autoren in den Mittelpunkt zu stellen, ohne im Fachprogramm an Relevanz zu verlieren – das könnte langfristig ein Alleinstellungsmerkmal Frankfurts in der Messelandschaft sein.

Über all das hätte man Interessantes schreiben und senden können. Es kam anders. Ein rechtsextremer Verlag namens Jungeuropa aus Dresden, der realiter klein am Rand und nicht groß im Mittelpunkt stand, ging steil in den sozialen wie auch den traditionellen Medien. Sein Verleger kann sich bei Antirassismus-Aktivistinnen bedanken. Denn die haben mit Boykott und Statements gegen die Buchmesse den akkurat Gescheitelten die Beachtung erst verschafft, die diese nicht verdienen.

Der Streit über die richtige Handhabung der Meinungsfreiheit, um die es auf jeder Buchmesse immer wieder geht, ist dieses Mal missglückt. Gespräche, die auf Verständigung zielen statt auf Erregungsaufbau, gab es zu wenige. Eskalationen, die gegenüber ruhiger Argumentation natürlich mehr Aufmerksamkeit finden, gab es hingegen zu viele.

Auf der einen Seite dominierten giftiges Behaupten; Maßlosigkeit in der Beschreibung von Gefahr; eine Solidaritätsbewegung, der außer Boykott nichts einfiel; politische Trittbrettfahrerei der populistischen Art – alles, und das macht die Sache nicht einfacher, unter dem Schutz unangreifbarer Subjektivität ("Ich fühle mich bedroht") oder bester Absichten ("Ich will, dass alle diese Autorinnen ohne Angst nach Frankfurt kommen können").

Auf der anderen Seite liefen in Endlosschleife die bekannten, sachlich zutreffenden Verweise: auf den hohen grundrechtlichen Rang der Meinungsfreiheit; auf eine seriöse Produktion von Sicherheit in Kooperation mit Polizei und Behörden; auf den Umstand, dass die Frankfurter Buchmesse eine Plattform mit Monopolcharakter ist, weshalb den Verantwortlichen rechtlich die Hände gebunden seien (Zwang zum Vertragsschluss).

So standen sich Aktivisten des Antirassismus und Verteidiger der Meinungsfreiheit wie zwei Gekränkte gegenüber und schenkten einander nichts. Nichts außer Standpunkte. So sieht Meinung in Käfighaltung aus. Der Meinungskäfig ist aber nicht von der Verfassung geschützt.

Hier die weiteren Aussichten: Das geht nächstes Jahr abermals schief. Es sei denn, folgende selbstverunsichernde Fragen bekommen eine Chance auf Entfaltung.

Für das Team Boykott: Was möchte ich eigentlich bewirken? Dass extremistische Kleinverlage vom Rand ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken? Ist womöglich Lust auf Machtausübung mit im Spiel? Was wäre mein nächster Stein des Anstoßes, wenn Jungeuropa tatsächlich die Rote Karte bekäme? Sarrazins Verlage? Klett-Cotta wegen Ernst Jünger? Oder (Absurdität lässt sich beliebig steigern) vielleicht Vittorio Klostermann mit seinem Heidegger?

Für das Team Meinungsfreiheit: Könnte sich die Anstrengung lohnen, in die Details zu gehen? Habe ich anlässlich der "vielen rassentheoretischen Gespräche" (Auskunft der Jungeuropäer zu ihren Messeaktivitäten) gut vernehmbar meine Abscheu zu Protokoll gegeben? Habe ich mit Schwarzen Menschen, insbesondere Frauen, die sich in Nachbarschaft Rechtsgesinnter ängstigen, persönlich und empathisch gesprochen, Verständnis für deren Besorgnis gezeigt und mit ihnen gemeinsam nach Lösungen gesucht?

Unterm Strich hat die Buchmesse die besseren, zu Ende gedachten Argumente auf ihrer Seite. Kommunikativ zog sie diesmal dennoch den Kürzeren. Die Tonalität ihrer Rechtfertigung war unglücklich gewählt. Wer auf die Klage, jemand fühle sich subjektiv bedroht, den Bescheid gibt, objektiv bestehe keine Gefahr, hat in diesem Fall zwar recht, aber auch verloren. Das ist eine bittere Pointe. Die gute Nachricht: Die Pointe bietet sich dafür an, Lehren aus ihr zu ziehen.

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