Leipzig liest extra im Mai

Hurra, wir lesen noch!

10. März 2021
Nils Kahlefendt

Lebendig trotz Absage: Die Leipziger Buchmesse veranstaltet vom 27. bis 30. Mai "Leipzig liest extra". Den Kern bilden – immer unter der Maßgabe, dass die Pandemie-Bedingungen das zulassen – rund 300 Veranstaltungen in der Stadt.

Zwei Tage nach der Ankündigung von Juergen Boos, die Frankfurter Buchmesse 2021 als klassische Präsenzveranstaltung zu planen, macht nun auch das Team Leipzig um Buchmesse-Direktor Oliver Zille seinen Aufschlag. Anstelle der ursprünglich in den Mai verschobenen und Ende Januar pandemiebedingt abgesagten physischen Buchmesse wird es nun vom 27. bis 30. Mai Leipzig liest extra geben. "Lasst uns lesen!" lautet, beinahe trotzig, das Motto der stark komprimierten Sonderausgabe des Lesefests. Leser und Autoren sollen sich wieder begegnen, miteinander diskutieren, einander inspirieren – trotz Pandemieregeln und eingeschränkter Mobilität. "Meine Hoffnung ist es, dass wir Ende Mai mit Impfungen und Tests entscheidend weitergekommen und die Veranstaltungsbedingungen so liberal wie möglich sind", sagt Buchmesse-Direktor Oliver Zille im Gespräch mit Börsenblatt.net. "Ich hoffe, dass wir möglichst viele Veranstaltungen mit Publikum möglich machen können, so dass die neuen Bücher möglichst breite öffentliche Resonanz finden."

Zilles Botschaft: "Die Messe ist abgesagt – aber wir leben. Und versuchen, das Mögliche zu tun." Aktuell ist besteht es darin, zumindest jenen Verlagen, die sich mit Stadtveranstaltungen für die Buchmesse angemeldet hatten, die Umsetzung zu ermöglichen – flankiert von überregional wirkender Medienorchestrierung und wenigen prominenten Veranstaltungen mit Strahlkraft für Politik, Kulturbetrieb und Branche. Eile tut not: Verlage wie Leipzig liest-Orte müssen sich dringend abstimmen, welche Autorinnen und Autoren nun tatsächlich kommen, welche der geplanten Bühnen wirklich zur Verfügung stehen. Das alles ohne klare Öffnungs-Szenarien in einem äußerst volatilen Umfeld.    

Den Kern von Leipzig liest extra bilden – immer unter der Maßgabe, dass die Pandemie-Bedingungen das zulassen – rund 300 Veranstaltungen in der Stadt. Als Veranstaltungsorte kommen jene zum Tragen, die sich bereits 2020 mit eigenen Hygienekonzepten bewährt haben. Darunter sind klassische Leipzig liest-Orte wie das Kulturzentrum naTo oder die Deutsche Nationalbibliothek, aber auch neue Locations wie das Ost-Passage Theater oder die Parkbühne Geyserhaus. Aufgrund der erwartbaren Platzbeschränkungen und um ein möglichst breites Publikum zu erreichen, werden viele Veranstaltungen auf der Plattform der Leipziger Buchmesse kostenfrei gestreamt. Das detaillierte Programm soll Anfang Mai veröffentlicht werden.

Preisverleihungen mit Strahlkraft

Die Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung an Johny Pitts findet am Abend des 26. Mai in der Leipziger Nikolaikirche statt. Das dürfte ein emotional hoch aufgeladener Moment werden, nicht nur, weil der 1994 begründete Preis damit an einen ikonischen Ort der friedlichen Revolution von 1989 zurückkehrt. Im April 1991 war die erste Nachwende-Buchmesse, die außerhalb der Leipziger Frühjahrsmesse abgehalten wurde, hier eröffnet worden – damals stand der 84jährige Tübinger Literaturwissenschaftler Hans Mayer, einst Ordinarius in Leipzig, als Eröffnungsredner auf der Kanzel. Die Laudatio auf den Briten Pitts und sein Buch "Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa" (Suhrkamp) hält die Literaturagentin Elisabeth Ruge. Im Rahmen des Festakts wird auch László F. Földényi, Preisträger von 2020, nachträglich geehrt – die Vergabe im Gewandhaus war im März letzten Jahres bekanntlich coronabedingt abgesagt worden.

Der mit insgesamt 60.000 Euro dotierte Preis der Leipziger Buchmesse, dessen Verleihung in der Glashalle zu den Leipziger Messe-Höhepunkten gehört, wird diesmal am Freitag, 28. Mai, 16 Uhr in der Kongresshalle am Zoo vergeben. Bereits am 13. April gibt die Jury die Liste der 15 Nominierten in den drei Preiskategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung bekannt. Weitere Preisverleihungen wie der Lesekompass zur Prämierung von Kinder- und Jugendbüchern, der Fantasypreis Seraph, der Kurt-Wolff-Preis für unabhängige Verlage, der prix de lyceens für französische Jugendliteratur und der Sales Award für herausragende verkäuferische Leistungen in der Buchhandelsbranche sind ebenfalls für Ende Mai geplant.

Literatur auf allen Kanälen: Schulterschluss mit den Öffentlich-Rechtlichen

Bereits nach der Absage der Leipziger Buchmesse im März 2020 hatte MDR Kultur innerhalb einer Woche sein komplettes Live-Bühnenprogramm in ein digitales Studioprogramm umgeplant. "Über zehn Stunden nonstop Livestream-Bewegtbild aus einem Radiostudio", sagt MDR Kultur-Literaturchefin Katrin Schumacher, "das war eine absolute Premiere". Vom 27. bis 30. Mai nun werden alle MDR-Programme – von Kultur, Sputnik, Aktuell und Jump bis zum Fernsehen – im linearen Programm und in der Mediathek Literatur an die Rampe bringen. Im Zusammenschluss mit der ARD ist eine regelrechte "Literaturoffensive" geplant. Zusätzlich startet am 29. Mai von 10 bis 20 Uhr ein Lesemarathon vor Live-Publikum in der Alten Handelsbörse am Naschmarkt, der in die Kulturradios der ARD übertragen wird. Auch das Blaue Sofa ist bei Leipzig liest extra dabei: Die Gemeinschaftsproduktion von Bertelsmann, ZDF, Deutschlandfunk Kultur und 3sat wechselt von der Glashalle an einen innerstädtischen Ort, vermutlich die Kongresshalle, und präsentiert täglich Lesungen und Autorengespräche – auch hier, nach Pandemielage, vor Publikum und im Stream. 

Stell’ dir vor, es ist Buchmesse...

Das Literaturhaus Leipzig plant für die Woche Ende Mai, als sei Buchmesse – und setzt dafür auf gutes Wetter und die Qualitäten seines vielleicht schönsten Raums: dem Garten. Vom 25. bis 29. Mai ist der Programmkalender gut gefüllt – die Highlights sind ein von Gregor Sander moderierter Abend mit Judith Hermann (26. Mai) und die dreitägige, in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung organisierte Veranstaltung The Years of Change (27. – 29. Mai), bei der unter anderem Swetlana Alexijewitsch, Slavenka Drakulic, Karl Schlögel, David Grossmann, Wladimir Kaminer, Serhij Zhadan und Dmitrij Kapitelmann erwartet werden. Vorfreude auf Lesungen, Diskussionen, gar ein Late-Night-Konzert? "Es ist ein vorläufiger Plan", sagt Literaturhaus-Chef Thorsten Ahrend. "Manches wird nicht klappen, aber ich bin guter Hoffnung, dass bis dahin die Reiserestriktionen nicht mehr so scharf sind. Auf Digital only hab’ ich keine Lust." Jedes Jahr zur Leipziger Buchmesse kommen ehemalige Studierende des Deutschen Literaturinstituts zurück in die Wächterstraße und lesen aus ihren aktuellen Romanen. Die "Institutsprosa" musste letztes Jahr kurzfristig abgesagt werden und findet 2021 unter besonderen Umständen statt: An zwei Abenden (27./28. Mai) statt einem, draußen im Garten statt drinnen im Saal – und, dank Unterstützung durch das "Neustart Kultur"-Programm des Deutschen Literaturfonds, mit 18 Autorinnen und Autoren, darunter Kaska Bryla, Dorothee Elmiger, Mareike Krügel, Roman Ehrlich, Kristof Magnusson und Laura Lichtblau.

Comics: Neuanfang mit dem Squash-Kollektiv

Wenn die Community der Manga-Comic-Con (MCC) in den letzten Jahren eins bewiesen hat, dann ist es die Tatsache, dass sie bunt und vielfältig ist – eine gelungene Abwechslung in herausfordernden Zeiten. Im Rahmen von Leipzig liest extra präsentiert sich die MCC mit mehreren Community-Aktionen und MCC Kreativ Digital, einer Kunstausstellung im Netz. The Millionaires Club, ein von Anna Haifisch, Max Baitinger und anderen Absolventen aus dem Umfeld der Leipziger HGB begründetes Low-Budget-Festival für Comics, Plakate und Grafik, zog bis 2019 über drei Tage parallel zur Leipziger Buchmesse Künstler aus aller Herren Länder an. Nun haben Haifisch und ihre Freunde, nach fast zehn Jahren, den Stecker gezogen. Wenn Viren und Mutanten es zulassen, könnte es jedoch einen Neuanfang geben: Das Leipziger Kunst-Kollektiv Squash plant vom 27. bis 30. Mai im Kolonnadenviertel westlich des Zentrums die Snail Eye – Cosmic Comic Convention. Die Gruppe, 2018 von Lina Ehrentraut, Malwine Stauss, Franz Impler und Eva Gräbeldinger gegründet, bereitet Lesungen, Ausstellungen von Zines, Büchern und Prints sowie Animationsfilm-Screenings vor – bei guten Wetter vieles davon draußen.  

Schwieriges Terrain: Common Ground und Gastland Portugal

Die physische Begegnung mit internationalen Autorinnen und Autoren dürfte aufgrund der eingeschränkten Mobilitäten bis auf weiteres schwierig bleiben – das gilt auch für Leipzig liest extra: Literatur aus Südosteuropa rückt bei Common Ground in den Fokus. Schwerpunkt bildet in diesem Jahr "Archipel Jugoslawien – Von 1991 bis heute" mit digitalen Gesprächen, Diskussionen, Buchpräsentationen sowie Spiel- und Dokumentarfilmen. Das Programm wird auf der Plattform von Leipzig liest extra gestreamt. Die genaue Umsetzung des ursprünglich geplanten Gastland-Auftritts Portugals "Unerwartete Begegnungen", in deren Fokus die Präsentation von über 50 Novitäten steht, wird aktuell mit den Organisatoren besprochen. Informationen dazu wollen die Messemacher zeitnah nachliefern.

Klein, aber sichtbar: Independent-Verlage bei Leipzig liest extra

In Leipzig hatten kleinere, unabhängige Verlage mit originellen Veranstaltungsformaten und immer wieder neuen, ausgefallenen Veranstaltungs-Orten seit jeher ein Heimspiel; sie waren verlässlich Magneten für Literaturbetriebs-Arbeiter und Publikum. Wie verschaffen sie sich die gerade in Pandemie-Zeiten so dringend benötigte Sichtbarkeit? Die Kurt Wolff Stiftung hat einen ganzen Strauß von Aktivitäten geplant: Die Verleihung des Kurt-Wolff-Preises an den Verleger Ulrich Keicher sowie des Förderpreises an die Edition Converso soll am 28. Mai, voraussichtlich in der Kongresshalle, stattfinden; die Laudatio hält der langjährige SZ-Feuilletonist Lothar Müller. Das Forum Die Unabhängigen, in normalen Zeiten Messe-Magnet mit halbstündig getaktetem Programm, verlegt die Kurt Wolff Stiftung nun in den Westflügel des Lindenfels im Leipziger Westen; da die rund 25 Lesungen – wenn überhaupt - wohl nur von einem Bruchteil des interessierten Publikums live verfolgt werden können, wird auch hier gestreamt (27. – 30. Mai). Am Samstag, 29. Mai wird die Premiere von "Die Unabhängigen – Spätausgabe", die bereits 2020 die legendäre UV-Lesung ablösen sollte, im Literaturhaus-Garten stattfinden.