Krimi-Fokus: Interview mit Ursula Hasler

Glauser und Simenon im Dialog

7. September 2021
Michael Roesler-Graichen

Was hätte geschehen können, wenn sich die beiden Krimi-Titanen Georges Simenon und Friedrich Glauser begegnet wären? Die Schweizer Autorin Ursula Hasler gibt mit ihrem Roman "Die schiere Wahrheit" (Limmat Verlag) eine überraschende Antwort. Ein bemerkenswertes literarisches Experiment, das viel über das Genre selbst aussagt und zugleich unterhaltsam zu lesen ist.

Ihr Roman „Die schiere Wahrheit“ ist ein ungewöhnliches Erzählexperiment: Friedrich Glauser und Georges Simenon begegnen sich an der französischen Atlantikküste und schreiben gemeinsam einen Kriminalroman, in dem Wachtmeister Studer ermittelt. Hätten sich die beiden Schriftsteller jemals begegnen können?
Theoretisch wäre es möglich gewesen, dass die beiden sich im Juni 1937 in Saint-Jean-de-Monts in der Vendée hätten begegnen können, auch wenn sie sich im wirklichen Leben nie kennengelernt haben. Friedrich Glauser hielt sich im Jahr 1937 im Badeort La Bernerie-en-Retz auf, damals etwa zwei Zugstunden vom Schauplatz der Handlung entfernt, die in Saint-Jean-de-Monts spielt. Georges Simenon, der zu diesem Zeitpunkt als Vierunddreißigjähriger bereits auf der Höhe seines Erfolgs stand, lebte in Paris und kaufte sich Anfang 1938 ein Haus in Nieul-sur-Mer, südlich der Vendée. Er kannte die Gegend aus früheren Jahren und hätte im Juni 1937 durchaus in Saint-Jean-de-Monts Urlaub machen können. Glauser verehrte Simenon, somit fand ich die Idee reizvoll, die beiden zusammenzubringen.

Sie schildern nicht nur die fiktive Begegnung, sondern erzählen auch die Kriminalgeschichte, die beide auf Ihren Spaziergängen ersinnen. Geht das zusammen, Glauser und Simenon?
Man kann die beiden erstaunlich gut in einen Dialog bringen, wie ich nach den ersten Recherchen mit Erleichterung festgestellt hatte. Natürlich haben beide sowohl literarisch als auch sozial in völlig unterschiedlichen Universen gelebt. Simenon war mit seinen ersten Maigret-Romanen bekannt und reich geworden, während Glauser nie Geld hatte und ständig einen Rückfall in die Morphiumsucht mit anschließender Internierung in der Psychiatrie fürchten musste. Als Material für die Gespräche habe ich ihre Aussagen über das Schreiben und die (Kriminal-)Literatur aus ihren Briefen und autobiografischen Texte gesammelt und dabei überraschend viele Parallelen gefunden. Ihre Äußerungen über das Krimischreiben dann umzusetzen und die beiden – durch mich – einen Krimi erfinden zu lassen, war jedoch eine ziemliche Herausforderung! Darin musste ich die Vorstellungen beider, aber auch ihre Stilistik und Art zu schreiben, so anwenden, dass daraus eine Erzählung hervorging, die dem Niveau beider Autoren standhält.

Beide haben sowohl literarisch als auch sozial in völlig unterschiedlichen Universen gelebt.

Ursula Hasler

Wieso löst Glausers Wachtmeister Studer den Fall in Ihrem Roman – ohne Maigret?
Es gibt einen banalen Grund: weil alle Figuren Simenons geschützt sind. Dass Maigret in meiner Geschichte nicht auftreten durfte, passte aber ins Setting des Romans, denn Simenon hatte seinen Kommissar Maigret bereits 1934 in den einstweiligen Ruhestand verabschiedet. Stattdessen habe ich meinen fiktiven Simenon dann die Figur der Amélie Morel erfinden lassen, eine Krankenschwester mit Ermittlerinstinkt. Für Glauser hingegen war 1937 ein Erfolgsjahr, zwei Studer-Romane waren bereits erschienen, während er in diesem Jahr gleichzeitig an drei weiteren arbeitete.

Verteilen sich Ihre Sympathien auf beide Autoren gleichermaßen?
Ich habe beide gleich lieb! sagen Eltern, wenn man sie nach ihrem Lieblingskind fragt …Simenon ist ein Phänomen, allein wegen seiner Produktivität – und das immer in hoher Qualität. Bei Glauser spürt man auch heute noch das Ringen des Autors mit dem Schreiben. Die Glauser-Texte sind sperriger, die Simenon-Romane wirken glatter.

Das Buch ist auch ein Meta-Krimi: ein Crash-Kurs über das Krimischreiben, zumindest aus der damaligen Perspektive. Was können heutige Autorinnen und Autoren davon mitnehmen?
Nicht nur Autorinnen und Autoren. Mir ging es darum, dem Lesepublikum Einblicke zu verschaffen, was hinter dem Schreiben eines Krimis steht, welche Probleme sich stellen. Man arbeitet als Krimiautorin immer auf zwei Ebenen: Einmal geht es darum, die Geschichte des Verbrechens mit Figuren, Hintergründen, Motiven und zeitlichem Ablauf zu entwerfen. Zweitens dann die Dramaturgie der Ermittlung und Auflösung zu bestimmen, die einer andern Erzähllogik folgt. Nach diesem Buch kann ich sagen, dass mein Respekt vor Krimi-Autoren und -Autorinnen sehr gewachsen ist!