Jessica Sänger zur Gorman-Umfrage des Börsenblatts

Fragen stellen - ein Selbstversuch

22. März 2021
Redaktion Börsenblatt

Muss die Übersetzerin von Amanda Gorman die gleiche Identität haben wie die Autorin? Nein, sagten 95 Prozent der Teilnehmer einer Börsenblatt-Umfrage. Ein ungeeignetes Format, um substanzielle Fragen zu stellen und der Polarisierungsfalle zu entgehen, meint Jessica Sänger, Direktorin für Europäische und Internationale Angelegenheiten beim Börsenverein. Lesen Sie hier ihre ganz persönliche Meinung.

Die Debatte um die Übersetzung des Gedichts „The Hill We Climb“ von Amanda Gorman fand vor ein paar Tagen ihren Weg in eine Umfrage des Börsenblatts. Auf die Frage „Sollte ein Übersetzer oder eine Übersetzerin die gleiche Identität wie der Autor oder die Autorin haben?“ antworteten 95 Prozent der abstimmenden Leser*innen mit „nein“. Das sieht nach einem eindeutigen Ergebnis aus. Ist die Debatte also für die Leser des Börsenblatts gar keine? Teilt die ganz überwiegende Mehrzahl der Leser*innen eine homogene Meinung zum Thema? Das bezweifle ich, kenne ich doch die große Diskussionsfreudigkeit unserer Branche. Und ich spüre zugleich ein Unbehagen angesichts dieser Umfrage auf Basis einer simplen Ja/Nein-Frage. Die 95-Prozent-Antwort erscheint mir keinen Beitrag zur Debatte zu liefern.

Ich erkunde mein Unbehagen und überlege, welche Fragen ich gerne ergänzend gestellt hätte und bleibe beim Umfrage-Format der Ja/Nein-Fragen. Mir fallen einige ein: Gibt es hierzulande Chancengleichheit unter Übersetzer*innen? Gibt es Geschlechtergerechtigkeit in der Literaturszene? Werden Stimmen von Minderheiten ausreichend verlegt? Hat jeder Mensch eine „Brille“ auf, die mit der eigenen Identität verknüpft ist? Kann ein/e Übersetzer*in einen Text gut übersetzen, zu dem er/sie keinen Bezug hat? Bedarf es für das Übersetzen der Fähigkeit, sich in andere hinein zu versetzen? Dürfen Menschen über die Situation von anderen Menschen schreiben oder sprechen, deren Identität sie nicht teilen? Darf ein*e Journalist*in über andere Teile der Welt als den der eigenen Herkunft berichten? Ist die Einladung einer Person zu einer öffentlichen Diskussion gleichbedeutend damit, sämtliche Meinungen dieser Person zu unterstützen?

Schon ist das Unbehagen wieder da: die Ja/Nein-Frage erzwingt eine Polarisierung, die kaum einer Debatte guttut, und sie scheint mir dabei leicht von den Themen abzulenken, um die es eigentlich geht. Mein Lieblingsbeispiel für das Problem mit Ja/Nein-Fragen ist ja das Brexit-Referendum. Es führt uns seit fast fünf Jahren vor Augen, dass Fragen, um die es sich lohnt zu diskutieren, mit den Auswahlmöglichkeiten „ja“ oder „nein“ kaum sinnvoll zu beantworten sind, weil die Menschen mit ihren Antworten Gründe und Bedingungen verbinden, die in dieser Ja/Nein-Antwort keinen Niederschlag finden können. Vielmehr kann allein das Stellen der Frage zu einer Polarisierung führen, die in der Lage ist, eine ganze Gesellschaft zu spalten.

Fragen, um die es sich lohnt zu diskutieren, sind mit den Auswahlmöglichkeiten „ja“ oder „nein“ kaum sinnvoll zu beantworten.

Ich knoble also herum mit offenen Fragen: Wie können wir einen Debatten-Raum schaffen, der kontroverse Diskussionen ermöglicht, ohne dass „zwangs-polarisiert“ wird? Wie ermöglichen wir es dabei Diskutanten, eine Aussage im Zuge der Diskussion zu präzisieren, zu korrigieren oder auch zu revidieren, also den eigenen Standpunkt weiterzuentwickeln? Schaffen wir es, Meinungen zu ertragen, die unseren eigenen entgegenstehen, ohne die Integrität unseres Gegenübers deshalb insgesamt in Frage zu stellen? Können wir über wichtige Fragen unterschiedlicher Meinung und uns trotzdem über grundsätzliche Werte einig sein? Was ist noch eine Meinung, was schon eine unzulässige Beleidigung?

Mein Unbehagen ist jetzt fast weg, aber es wird alles komplizierter und damit anstrengender, aber eben auch viel interessanter. Vielleicht kann ich so auch an die Identitäts-Debatte herangehen: Ist Erfahrung als Literaturübersetzer*in wichtiger, oder der eigene Erfahrungshorizont des/der Übersetzer*in? Kann es hier feste Regeln geben, oder liegen die Dinge in jedem Einzelfall anders? Gibt es überhaupt Richtig und Falsch in diesen Fragen? Ist diese Debatte schon deshalb gut, weil sie in der Branche ein neues Bewusstsein für einen sensiblen Umgang mit Entscheidungen dieser Art schafft?

Inzwischen habe ich Spaß an der Fragerei und grabe ein bisschen tiefer: Was macht Diskriminierung mit Menschen? Wie schaffen wir es, Minderheiten ausreichend Gehör zu verschaffen? Können wir lernen, unsere eigenen Privilegien zu erkennen, und wie gehen wir damit um? Wie können wir üben, andere Standpunkte auszuprobieren und über unseren Erfahrungshorizont hinaus zu blicken? Können wir erkennen, wenn eine Diktatur der Mehrheit nach dem Motto „für mich normal = einzig richtig“ Minderheiten ausgrenzt? Was bedeutet eigentlich Zuhören? Wie können wir lernen, Komplexität besser auszuhalten? Laufen wir in dieser Debatte Gefahr, Autor*innen mit ihren Erzähler*innen bzw. gar Figuren zu verwechseln?

Und dann kommen wieder die Sorgen: Müssen wir Selbstzensur betreiben aus Angst vor einem Shitstorm? Schaffen wir es, jemandem, der/die nicht zu 100 Prozent unsere Meinung teilt, zuzugestehen, dass er/sie deshalb nicht unser Feind ist? Können wir aufgeladene Totschlag-Vorwürfe wie „Cancel Culture“ oder „Rassismus“ eintauschen gegen Sachargumente, die das konkrete Problem benennen?

Jetzt ist es schon ziemlich spannend geworden, so dass ich zum Schluss mit gewagten Suggestiv-Fragen aufs Ganze gehe: Könnten wir nicht in Gesprächen über diese Themen sehr viel voneinander lernen? Gibt es besser geeignete Diskussionsteilnehmer*innen als Bücher-Menschen, um das Experiment eines Debatten-Raums mit „Polarisationsverbot“ zu wagen? Wäre es nicht wunderbar, es zu versuchen? Ja oder nein?!

Täglich oder wöchentlich
Mit den vier Börsenblatt-Newslettern immer auf dem aktuellsten Stand

-> Nachrichten des Tages am Nachmittag
-> Die besten Links aus dem Netz am Morgen
-> Breaking News blitzschnell
-> Jeden Mittwoch Verkaufscharts der Woche