Ich knoble also herum mit offenen Fragen: Wie können wir einen Debatten-Raum schaffen, der kontroverse Diskussionen ermöglicht, ohne dass „zwangs-polarisiert“ wird? Wie ermöglichen wir es dabei Diskutanten, eine Aussage im Zuge der Diskussion zu präzisieren, zu korrigieren oder auch zu revidieren, also den eigenen Standpunkt weiterzuentwickeln? Schaffen wir es, Meinungen zu ertragen, die unseren eigenen entgegenstehen, ohne die Integrität unseres Gegenübers deshalb insgesamt in Frage zu stellen? Können wir über wichtige Fragen unterschiedlicher Meinung und uns trotzdem über grundsätzliche Werte einig sein? Was ist noch eine Meinung, was schon eine unzulässige Beleidigung?
Mein Unbehagen ist jetzt fast weg, aber es wird alles komplizierter und damit anstrengender, aber eben auch viel interessanter. Vielleicht kann ich so auch an die Identitäts-Debatte herangehen: Ist Erfahrung als Literaturübersetzer*in wichtiger, oder der eigene Erfahrungshorizont des/der Übersetzer*in? Kann es hier feste Regeln geben, oder liegen die Dinge in jedem Einzelfall anders? Gibt es überhaupt Richtig und Falsch in diesen Fragen? Ist diese Debatte schon deshalb gut, weil sie in der Branche ein neues Bewusstsein für einen sensiblen Umgang mit Entscheidungen dieser Art schafft?
Inzwischen habe ich Spaß an der Fragerei und grabe ein bisschen tiefer: Was macht Diskriminierung mit Menschen? Wie schaffen wir es, Minderheiten ausreichend Gehör zu verschaffen? Können wir lernen, unsere eigenen Privilegien zu erkennen, und wie gehen wir damit um? Wie können wir üben, andere Standpunkte auszuprobieren und über unseren Erfahrungshorizont hinaus zu blicken? Können wir erkennen, wenn eine Diktatur der Mehrheit nach dem Motto „für mich normal = einzig richtig“ Minderheiten ausgrenzt? Was bedeutet eigentlich Zuhören? Wie können wir lernen, Komplexität besser auszuhalten? Laufen wir in dieser Debatte Gefahr, Autor*innen mit ihren Erzähler*innen bzw. gar Figuren zu verwechseln?
Und dann kommen wieder die Sorgen: Müssen wir Selbstzensur betreiben aus Angst vor einem Shitstorm? Schaffen wir es, jemandem, der/die nicht zu 100 Prozent unsere Meinung teilt, zuzugestehen, dass er/sie deshalb nicht unser Feind ist? Können wir aufgeladene Totschlag-Vorwürfe wie „Cancel Culture“ oder „Rassismus“ eintauschen gegen Sachargumente, die das konkrete Problem benennen?
Jetzt ist es schon ziemlich spannend geworden, so dass ich zum Schluss mit gewagten Suggestiv-Fragen aufs Ganze gehe: Könnten wir nicht in Gesprächen über diese Themen sehr viel voneinander lernen? Gibt es besser geeignete Diskussionsteilnehmer*innen als Bücher-Menschen, um das Experiment eines Debatten-Raums mit „Polarisationsverbot“ zu wagen? Wäre es nicht wunderbar, es zu versuchen? Ja oder nein?!