Vieles von dem, was um uns herum und mit uns geschieht, erst recht nach dem 7. Oktober, macht uns sprachlos. Glauben Sie, dass ein Lesebuch wie "Worte in finsteren Zeiten" helfen kann, Trost zu finden?
Es ist ja mehr als ein Lesebuch. Alle Beteiligten teilen hier die Worte, Sätze und Texte mit uns, die ihnen momentan Halt geben. Das ist eine sehr persönliche Geste und jeder einzelne Text ist ein Geschenk. Für mich ist dieses Buch auch eher ein Ort und ein Zeichen. Ein Ort, an dem all diejenigen zusammenkommen, mit ihrer Trauer und ihrem Schmerz und ihrer Hoffnung, die sich in der Öffentlichkeit gerade nicht immer leicht verständigen können. Und ein Zeichen, dass es den Wunsch nach dieser Verständigung gibt. Ebenso sind es auch diejenigen, die es möglich gemacht haben, dass wir diese Idee für dieses Buch so schnell realisieren konnten. Sie haben sich dafür eingesetzt, über ihre Arbeitszeit hinaus. Weil auch sie wollten, dass es diesen Ort und dieses Zeichen gibt.
Ist es zugleich als Wegweiser gedacht, um literarische Quellen des Trostes aufzuspüren?
Wir haben uns, wie sicher viele in den letzten Wochen, gefragt, was wir tun können. Und es gibt vor allem eines, was Verlage tun können: Sie können Bücher machen. Wir haben also Menschen gefragt, ob sie uns einen kurzen Text schenken können, der – im weitesten Sinne – diesen Zeiten jetzt standhält: 100 kurze Texte, die auf den Satz "Es gibt ja dafür keine Worte…" antworten, indem sie zeigen, dass es schwierig ist, Worte zu finden für Trauer, Terror und entsetzliche Gewalt, für Wut, Ohnmachts- und Schuldgefühle, aber dass es sie gibt. Wege können und wollen solche Texte wahrscheinlich nicht weisen. Sie stellen eher Fragen, schaffen eher Bilder. Dieses Buch ist vielleicht in dem Sinne ein Wegweiser: Es zeigt, dass es Verbindungen gibt. Es macht Hoffnung, dass man Wege finden könnte, einander anzuhören und dann vielleicht auch miteinander zu sprechen und gemeinsam zu trauern, um dann auch an eine Möglichkeit von Zukunft zu denken. Das ist sehr viel in diesen Zeiten.
Wie war die Resonanz auf Ihren Vorschlag, sich an diesem Buch mit eigenen Leseerfahrungen zu beteiligen?
Wir haben nur wenig mehr als 100 Autor:innen und Personen des öffentlichen Lebens gefragt und 96 Texte bekommen. Die Resonanz war enorm und hat uns sehr froh gemacht.
Wie trafen Sie die Auswahl der Autor:innen?
Ganz ehrlich: Es war ein bisschen zufällig. Wir hatten die Idee, wollten das Buch so schnell wie möglich zu den Leuten bringen, von denen wir dachten, sie brauchen so ein Buch genauso dringend wie wir, und haben dann unsere Autor:innen gefragt und andere Personen, die uns in den letzten Wochen durch Äußerungen und Begegnungen beeindruckt haben. Wären wir gezielter vorgegangen, hätten wir vor allem eines getan: Wir hätten sehr viel mehr Menschen gebeten, uns ihre Lebenstexte zu schenken. Hätten wir nicht vier Wochen, sondern vier Monate gehabt, wäre das Buch sehr viel dicker geworden – und es wäre ein anderes Buch geworden. Die Kraft liegt auch in der Unmittelbarkeit, der Spontaneität der Reaktionen. Diese 96 empfohlenen Texte in diesem Buch sind alles außerordentliche Texte, berührende, irritierende, schöne oder auch ungeheuer traurige Texte. Man kann sie wieder und wieder lesen.
Wie viele Tage Vorlauf hatten Sie und die Mitherausgeber:innen, um das Buch noch rechtzeitig vor Weihnachten herauszubringen?
Die Idee hatten wir am 7. November. Am 9. November, ausgerechnet, haben wir abends, um 19 Uhr, die Anfragen verschickt. Am 12. Dezember hatten wir das erste gedruckte Buch im Verlag. Am 20. Dezember wird das Buch in Buchhandlungen sein. Vier Wochen und fünf Tage. Ziemlich schnell also. Die Setzerei Dörlemann Satz in Lemförde hat uns sofort ihre Unterstützung zugesagt und Layout- und Satzarbeiten ohne Kosten übernommen. CPI in Leck hat für Druck und Weiterverarbeitung gesorgt und Nachtschichten eingelegt. Eine Reihe von Kolleg:innen im Verlag haben die Wochenenden durchgearbeitet, die Buchhändler:innen sind mitgegangen, die lizenzgebenden Verlage waren sehr entgegenkommend und einige Übersetzer:innen haben ihre Arbeit unterbrochen und uns innerhalb weniger Stunden die deutschen Texte geschickt. Das war für alle, die dabei waren, anstrengend, aber vor allem wohl eine Freude mit einem Ergebnis, dem Buch, über das alle jetzt sehr froh sind. Dieses gemeinsame wie selbstverständliche Engagement – und es ist nicht selbstverständlich – ist für mich in dieser finsteren Zeit in der Tat auch tröstlich.
Wie viel wird das Buch kosten, und was haben Sie mit dem Erlös vor?
Das Buch kostet zwanzig Euro. Wir werden, was wir damit verdienen, "Ärzte ohne Grenzen" spenden.
Was haben Sie selbst in den vergangenen Wochen gelesen, um sich mit dem Geschehenen in ein Verhältnis zu setzen?
Ich habe natürlich, wie viele, Zeitung gelesen. Carolin Emckes Kolumne über das Zuhören und der sehr kluge Essay von Lena Gorelik, beide in der "Süddeutschen", sind mir besonders in Erinnerung. Aber natürlich auch Bücher. Ich bin mitten im neuen (noch nicht fertigen) Manuskript von Götz Aly, das sich mit der Frage beschäftigt, wie die Nationalsozialisten an die Macht kommen und sich dort halten konnten. Und ich habe das Romandebüt von Luna Ali gelesen, das wir im Frühjahr veröffentlichen und von dem ich bisher nur eine frühe Fassung kannte. Es erzählt von einem syrischen Studenten in Deutschland, der sich fragt, was es bedeutet, dass er hier in Sicherheit lebt, während in seinem Land Krieg herrscht und die Menschen sterben. Privat lese ich momentan immer wieder Gedichte von Ilse Aichinger, und ich habe noch einmal den Roman "Die Vögel" von Tarjei Vesaas angefangen, der durch seine Sprache und Haltung für mich auch ein Halt ist in dieser Zeit. Vor allem aber habe ich viel mit Menschen gesprochen, die teilweise sehr unterschiedliche Sichtweisen auf die politische Situation haben, aber sich alle eines wünschen und sich dafür auch einsetzen: friedlich leben zu können.