Löst die Erfahrung, mehr Zeit für sich zu haben, den Wunsch aus, dass man gar nicht mehr in vorige, alte Zustände zurückkehren will?
Ja, das beobachte ich häufiger als Phänomen, dass Menschen zu mir sagen: So, wie ich jetzt arbeite, so flexibel, so ausbalanciert, möchte ich in Zukunft auch arbeiten. Wir versuchen, das Positive aus der Krise zu bewahren und mitzunehmen in die Zeit nach der Pandemie. Nie wieder jeden Tag ins Büro! Auch die Grenze zwischen Privatleben und Arbeit ist im vergangenen Jahr unschärfer geworden. In Deutschland verlief die Trennlinie traditionell sehr scharf. Das ändert sich gerade. Die Menschen können und möchten sie fließender gestalten.
Wird eine neue Haltung zur Arbeit durch die jüngeren Altersgruppen sichtbar?
Die Millennials, auch die Generation Y mit ihrer auch auf eigene Bedürfnisse achtenden Arbeitseinstellung färben jetzt gewissermaßen auf die älteren Generationen der Arbeitnehmer ab. Wobei eine falsche Einheitlichkeit suggeriert, wer pauschal von „den Jüngeren“ spricht. Ich kenne jüngere Menschen, die zu uns in die Beratung kommen, die suchen verstärkt nach Halt und Sicherheit und Planbarkeit; oft übrigens verbunden mit der irrtümlichen Annahme, ihre Schutzbedürfnisse erfüllten sich in sehr großen Unternehmen am besten. Das ist German Angst U 30. Ich kenne aber auch junge Leute, die haben kaum Ängste und machen sich wenig Sorgen. Die gründen lieber Start-ups.
Wie verändern sich die Arbeitsbeziehungen in der Pandemie?
Auf ganz interessante Weise. Ich habe bemerkt, dass Arbeitgeber, die bisher große Schwierigkeiten damit hatten, auf Vertrauensbasis mit ihren Leuten zusammenzuarbeiten und die explizit gegen freies Arbeiten im Homeoffice waren, sich diesen Möglichkeiten nun öffnen mussten. Sie stellen oft überrascht fest, dass sie sich auf ihre Mitarbeitenden doch verlassen können. Es genügt, dass man ihnen die technischen Möglichkeiten anbietet; dass sie auf Systeme zugreifen können; dass sie wissen, was zu tun ist und dass man regelmäßig in Kontakt bleibt. Kontrolle spielt dann eine nachgeordnete Rolle. So wird Vertrauen gestärkt.
Wie reagieren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darauf?
Sie wissen das zu schätzen und danken es mit einer höheren Solidarität und Loyalität zu ihrem Arbeitgeber. Sie merken, dass man ihnen vertraut, und diese Erfahrung verpflichtet eben auch. Man könnte sagen: Die Leine wird länger, die Bindung wird enger. Ich glaube, dass die Zeit für Innovationen und Neugestaltung von Arbeitsbedingungen noch nie so günstig war wie im Augenblick. Es herrscht eine große Offenheit dafür.
Nun kommt die Wirtschaft bisher uneinheitlich durch die Krise. In der Buchbranche schaffen es die Unternehmen recht gut. Welche Gründe sehen Sie dafür, dass der Buchmarkt sich derzeit als eher robust erweist?
Eine entscheidende Rolle spielt das Medium selbst, also das Buch, das schlichte Produkt. Es eignet sich in der Covid-19-Krise hervorragend dazu, die Zeit sinnvoll zu füllen. Von vielen Menschen höre ich, dass sie es schaffen, endlich mal wieder ein ganzes Buch zu lesen. Heißt doch: Sie hätten es wohl auch vorher gern mal geschafft, es ging aber nicht, es fehlte die Muße. Gleichzeitig geben Bücher zu den großen Fragen, die wir uns in der Selbstreflexion stellen, Impulse und Antworten. Da wundert es mich nicht, dass die Nachfrage nach Büchern spürbar angezogen hat.
Welche Rolle spielt der Buchhandel dabei?
Ich lebe in Berlin, da haben die Buchhandlungen auch im Lockdown geöffnet, sie gelten als systemrelevant, weil sie als „geistige Tankstellen“ angesehen werden. Das ist eine wunderbare Metapher dafür, dass das Buch in der gegenwärtigen Krisenzeit eine herausgehobene Bedeutung hat. Das Argument wird von Buchhändlerinnen und Buchhändlern auch hervorragend und glaubwürdig ausgespielt.
Die Kundschaft dankt es mit Treue und Bestellfreude.
Weil dahinter auch ein Wunsch nach Nähe in der Distanz steckt! So wie bei uns die Menschen gerne persönlich in die Beratung kommen, geht man auch gerne persönlich in „seine“ Buchhandlung – um ein paar Worte zu wechseln, aber auch, um etwas gegen die Verlustangst zu unternehmen. Es wäre doch eine Horrorvorstellung, die Buchhandlung im eigenen Viertel zu verlieren. Hier in Prenzlauer Berg versuchen viele Leute, ihren urbanen Raum durch solidarisches Verhalten zu schützen. Sie kaufen Gutscheine beim Friseur, sie kaufen ihren Wein beim kleinen Weinhändler um die Ecke. Ich tue das auch.