Auftakt der Frankfurter Buchmesse

"Die Kraft eines Buches liegt darin, dass wir unser Inseldasein verlassen können"

17. Oktober 2023
Matthias Glatthor

Zum 75. Mal öffnet der Frankfurter Buchmesse ab Morgen ihre Türen – die Eröffnungs-PK mit stimmte auf die folgenden Tage ein. Der schreckliche Terrorangriff der Hamas auf Israel wurde wiederholt aufgegriffen, auch die Verschiebung des LiBeraturpreises kam zur Sprache. Die extra aus London angereiste Keynote-Speakerin und Umweltjournalistin Gaia Vince sorgte mit ihren bedenkenswerten Ausführungen zum Thema Migration für viel Beifall. 

Juergen Boos, Direktor der Buchmesse, Gaia Vince, britische Umweltjournalistin und Sachbuchautorin, und Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, stehen nebeneinanderJuergen Boos, Direktor der Buchmesse, Gaia Vince, britische Umweltjournalistin und Sachbuchautorin, und Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, stehen nebeneinander

Die extra aus London angereiste Keynote-Speakerin und Umweltjournalistin Gaia Vince (Mitte)  sorgte mit ihren bedenkenswerten Ausführungen zum Thema Migration für viel Beifall bei der der Eröffnungspressekonferenz. Welche Optionen haben wir bezüglich Klimawandel und Migration? Darüber müsse jetzt die Diskussion beginnen – die Buchmesse sei ein passender Ort dafür.  Hier mit Juergen Boos, Direktor der Buchmesse und Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins.

Die Buchmesse sei ein Ort der Demokratie par excellence, so Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels bei der Pressekonferenz zur Messe-Eröffnung. "Wir erleben in den kommenden Tagen eine Vielfalt an Geschichten, Gedanken, Denkanstößen und Meinungen. Wie keine andere Institution bringt die Buchmesse Menschen aus unterschiedlichen Ländern zusammen, um friedlich über Bücher und gesellschaftliche Themen zu sprechen." Die Buchmesse stehe für ein friedliches Miteinander der Kulturen der Welt, das möchte sie gerade heute betonen. 

Das sei angesichts vieler Krisen von großer Bedeutung. Schmidt-Friderichs: "Die terroristischen Angriffe der Hamas auf Israel schockieren uns zutiefst. Wir verurteilen diese Gewalttaten auf das Schärfste. Unser Mitgefühl gilt allen Opfern der Gewalt in Israel und Palästina. Seit eineinhalb Jahren tobt an anderer Stelle, am Rande Europas, der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine." Mit Blick auf Deutschland sei zu beobachten, wie extreme Positionen in der Gesellschaft und der Parteienlandschaft immer mehr Zuspruch fänden: "Debatten heizen sich auf, einzelne Worte lösen Erregungswellen aus. Um uns herum gewinnen Populismus und Nationalismus in erschreckendem Maße an Terrain."

Die politische Dimension der Frankfurter Buchmesse mache es dem Team um Messedirektor Juergen Boos nicht leicht, aber der politische Aspekt mache die Buchmesse so wichtig. Denn die Zahl der Autokratien nehme weltweit zu. "An dieser Stelle vielen an die Polen, die richtig gewählt haben", nahm Schmidt-Friderichs auf ein aktuelles Ereignis Bezug. 

Demokratische Grundwerte seien immer mehr Angriffen ausgesetzt, so Karin Schmidt-Friderichs. "Demokratie, Freiheit und Vielfalt sind Eckpfeiler unserer Gesellschaft. Wir müssen sie verteidigen, als Einzelne, Branche und Gesellschaft. Die Buchbranche leistet einen elementaren Beitrag dazu. Um auch in Zukunft diese wichtige Funktion übernehmen zu können, brauchen wir aber stabile Rahmenbedingungen."

Immer mehr Verlage und Buchhandlungen, Autor:innen, Übersetzer:innen und auch die Logistik der Branche kämen wirtschaftlich an ihre Grenzen. Die aktuellen Marktzahlen sind auf den ersten Blick positiv: Der Umsatz in den zentralen Vertriebswegen sei in den ersten neun Monaten des Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 4,0 Prozent gestiegen (Quelle: Media Control). Gleichzeitig wurden aber 1,1 Prozent weniger Bücher verkauft, im Vergleich zu den ersten drei Quartalen des Vor-Pandemie-Jahres 2019 sogar 7,4 Prozent weniger.

"Die Jahre der Pandemie mit Ladenschließungen und ausgefallenen Messen sowie die Rohstoff- und Energiekostenexplosion bedrohen gerade die wirtschaftliche Existenz kleiner, unabhängiger Verlage. Diese gestalten mit Titeln abseits des Mainstreams und mit Neuentdeckungen die Vielfalt des Buchmarktes maßgeblich mit. Politik und Gesellschaft müssen sich fragen: Was ist uns eine vielfältige Buchlandschaft wert? Wir brauchen dringend eine strukturelle Verlagsförderung. Hier besteht Handlungsbedarf, die Überlegungen aus dem Koalitionsvertrag zügig umzusetzen und die dafür nötigen Mittel in den Bundeshaushalt einzustellen", sagte Karin Schmidt-Friderichs.

Eine Initiative strich sie besonders heraus: den KulturPass für 18-Jährige. Dies sei ein zeitgemäßer Ansatz, um junge Menschen für analoge Kulturangebote vor Ort zu begeistern. Sie dankte der Kulturstaatsministerin Claudia Roth und fügte an: "Bitte schreiben Sie diese Erfolgsgeschichte fort."

Darüber hinaus sei die Sichtbarkeit von Büchern in den Medien elementar für Branche und Gesellschaft: "Bücher und das Gespräch über sie sind wichtige Bausteine unserer Debattenkultur. Es ist eine der zentralen Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Debatten Raum zu geben. Daher brauchen Bücher dort Raum – zeitgemäß, auch auf neuen, nicht-linearen Kanälen – aber auch im linearen Programm und in erkennbaren Formaten, in denen sie von Menschen wahrgenommen werden. Das sollten Verantwortliche in Medienhäusern bei anstehenden Transformationen vor Augen haben", so Schmidt-Friderichs.

"And the story goes on"

Messedirektor Juergen Boos stieg mit dem diesjährigen Motto der Buchmesse ein: "And the story goes on". Dieses bringe die Kontinuität der Messe auf den Punkt. In einer Welt, die aus den Fugen geraten sei, durch die Krisen des Klimawandels und der westlichen Demokratien. Auch er betont aus aktuellen Anlass: "Unsere Gedanken sind bei den Opfern und Angehörigen, bei allen, die in Israel und Palästina unter der Hamas leiden". Man sei entsetzt. Was könne die Buchmesse beitragen? Bücher können der Korrektur von Fake-News dienen. Daher würde gerade in Krisenzeiten die Nachfrage nach Ratgebern und Sachbüchern steigen. Er wies etwa auf die Veranstaltungen und Bücher zur Ukraine hin: Damit werde der Krieg zwar nicht beendet, aber sie trügen ein Stück zur Lösung bei. 

Zum kulturpolitischen Auftrag der Buchmesse gehöre es, "mutigen Stimmen einen Resonanzraum zu geben". Boos freut sich insbesondere, dass Salman Rushdie bei einer Veranstaltung vor Ort sein wird und dann am Sonntag den Friedenspreis in der Paulskirche in Empfang nehmen wird.

"Massenmigration könnte ein besseres Anthropozän hervorbringen"

Für das Highlight sorgte sicher die Keynote-Speakerin Gaia Vince, die extra für die Veranstaltung aus London angereist war und am Abend schon wieder dorthin zurückkehren wird. Bei Piper ist gerade ihr aktuelles Buch "Das nomadische Jahrhundert" auf Deutsch erschienen. Damit befasst sie sich mit Migrationsbewegungen, die durch den Klimawandel ausgelöst werden. Ein Buch mit einem optimistischen Twist.

Sie begrüßte das Publikum auf Deutsch: "Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Buchliebhaber" – sprach dann auf Englisch weiter, und riss mit. Sie freute sich, dass sie an einen der tollsten Orte der Welt, die Frankfurter Buchmesse, eingeladen wurde. Und bedankte sich bei Übersetzern und Dolmetschern für ihre so wichtige Arbeit (Beifall aus dem Publikum dafür). Trotz der Schilderung der bereits jetzt sichtbaren Folgen des Klimawandels – Waldbrände in Kanada, überflutete U-Bahnen oder Dörfer – wollte sie Hoffnung vermitteln. Zwar werde kein Ort nicht von der Klimakrise betroffen sein, aber mit der richtigen Planung könne man sich an die Herausforderungen anpassen, diese meistern. Aber in etlichen Regionen werde es nicht funktionieren, die Menschen würden dort weggehen, von dort migrieren müssen. "Wir müssen jetzt eine ehrliche Diskussion darüber führen", so die Umweltjournalistin. Der hohe Norden werde weniger stark betroffen sein, dort wird man sich besser anpassen können – und keine Frage sei ihrer Meinung nach, dass sich die Menschen nach Norden aufmachen werden. Migranten könnten etwa neue Städte im hohen Norden gründen, malte sie ihre Zukunftsvision aus. Positiv sei Migration zudem für die überalterten, westlichen Gesellschaften. "Massenmigration könnte ein besseres Anthropozän hervorbringen", ist sich Vince sicher. Dazu brauche es ein Denken über unsere politischen Grenzen hinaus. 

Und sie spannte den Bogen zurück zur Buchmesse: "Die Kraft eines Buches liegt darin, dass wir unser Inseldasein verlassen können." So können wir andere Sichtweisen kennenlernen. Wo stehen wir? Welche Optionen haben wir bezüglich Klimawandel und Migration? Darüber müsse jetzt die Diskussion beginnen – die Buchmesse sei ein passender Ort dafür.   

Der Terrorangriff der Hamas auf Israel

Bei der anschließenden Fragerunde ging es zurück ins hier und jetzt – zum schockierenden Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober auf Israel und die Folgen. Einige Verlage aus dem Nahen Osten und Indonesien hätten sich von der Messe zurückgezogen, wie geht die Buchmesse damit um, so eine Frage? "Meinungsfreiheit ist unsere DNA", betonte Juergen Boos, die Buchmesse wolle einen Raum für Diskurs bieten. Insofern seien die Absagen ein Desaster für die Messe. Er freue sich, wenn zukünftig wieder alle Menschen auf der Messe zusammenkommen können, die es jetzt aus geopolitischen Gründen nicht können. 

Ein Grund für den Rückzug der Verlag war offenbar die Verschiebung der Verleihung des LiBeraturpreises 2023 an die palästinensische Autorin Adania Shibli. Man wollte die Autorin keiner "Hetzmasse" (ein Begriff von Elias Canetti) aussetzen, erläuterte Boos die Absage der Preisverleihung auf der Messe. Litprom, das den Preis vergibt, hätte entschieden, diesen nicht auf der Buchmesse zu überreichen, sondern zu einem späteren Zeitpunkt. Litprom sei im engen Austausch mit Verlag und Autorin gewesen, fügte Torsten Casimir, Sprecher der Buchmesse, an. Dann sei es am Ende die Entscheidung von Litprom gewesen, die Preisverleihung in einem würdigeren Rahmen zu vergeben. 

Angesprochen aus dem Publikum wurde auch ein Offener Brief, den unter anderem auch etliche Literaturnobelpreisträger:innen unterschrieben haben, der unter anderem gegen die Verschiebung der Preisverleihung protestiert. Casimir hob noch einmal hervor, das sich die Buchmesse als Plattform für das freie Wort verstehe, als Ort zum Austausch diverser Meinungen. Alle Stimmen, die für friedlichen Austausch stünden, seien willkommen. Die Verschiebung der Preisverleihung habe die genannten Gründe und sei kein Hinweis dafür, dass Meinungsfreiheit eingeschränkt würde.