Vor uns selbst können wir nicht flüchten
Bestseller-Autorin Charlotte Wood hat einen berührenden Roman geschrieben: »Tage mit mir« erzählt von den inneren und äußeren Herausforderungen unserer Zeit, von Mut, Gemeinschaft und Vergebung.
Bestseller-Autorin Charlotte Wood hat einen berührenden Roman geschrieben: »Tage mit mir« erzählt von den inneren und äußeren Herausforderungen unserer Zeit, von Mut, Gemeinschaft und Vergebung.
Was ist der richtige Umgang mit den zunehmenden Herausforderungen unserer Zeit? Ist es Rückzug? Oder das Engagement in einer Protestbewegung? Die namenlose Protagonistin des Romans »Tage mit mir« von Charlotte Wood flüchtet sich ein paar Tage in ein Kloster in den australischen Monaro Plains und kehrt damit in die Gegend ihrer Kindheit zurück. Die Städterin mittleren Alters glaubt nicht an Gott und hat noch nie gebetet – es ist eher eine grundsätzliche Erschöpfung und Lebensmüdigkeit, die sie zu der Auszeit im Kloster veranlasst. Der Abschied von ihren verstorbenen Eltern, die eigene Identität im Älterwerden, der Klimawandel – ihr gehen viele Gedanken durch den Kopf. Schließlich entscheidet sie sich, ihre Zelte in Sydney gänzlich abzubrechen und im Kloster zu bleiben.
Sie fügt sich als Dauergast in das klösterliche Leben ein, übernimmt eigene Aufgaben wie das tägliche Kochen. Ihr Leben ist beschaulich, die immer gleichen Rituale und die Gemeinschaft lassen sie zur Ruhe kommen. Die Autorin Charlotte Wood lebt selbst in Sydney, sie kennt die Sehnsucht nach Rückzug aus dem Stadtleben. »Ein einfaches Leben, keine Entscheidungen treffen müssen, immer dasselbe tun – danach sehne ich mich auch häufiger«, erzählt sie. Eine Dauerlösung sei das für sie aber nicht, zu schnell zeigt sich im Gegenzug wieder das Bedürfnis nach aktiver Lebensgestaltung. Und auch der Protagonistin ist keine lange Verschnaufpause vergönnt – plötzlich bricht Überraschendes über den Klosteralltag herein: Es gibt eine extreme Mäuseplage, die die Schwestern an ihre Grenzen bringt. Und: Die Knochen einer vermisst gemeldeten ehemaligen Mitschwester werden gefunden und ins Kloster gebracht – begleitet von der landesweit bekannten Aktivistin Schwester Helen Parry. Nun treffen zwei Frauen aufeinander, die einiges verbindet: Parry, als Kind Opfer elterlicher Vernachlässigung und Mobbing, heute bekannt als unbequeme Kämpferin gegen Ungerechtigkeit und Misstände, ist mit der Protagonistin in eine Schulklasse gegangen. Letztere war Mobbing-Zeugin und -Mittäterin – und schämt sich heute dafür. Beide Frauen befinden sich in einem intensiven Prozess innerer Auseinandersetzung, mit sich, ihrer Kindheit und ihren Müttern. Die Autorin selbst hat ihre Mutter im Alter von 29 Jahren verloren –ein Erlebnis, das erheblichen Einfluss auf ihr Leben nahm: »Ich habe damals angefangen zu schreiben«, erklärt Wood.
Wie gewinnen wir die Kraft, mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen? »Es gibt wohl kein allgemeingültiges Rezept«, so die Autorin. »Fest steht: Menschen, die gegen Ungerechtigkeit kämpfen und die Welt positiv verändern, haben ihre Stärke häufig durch erlebte Schicksalsschläge oder Ungerechtigkeit entwickelt«. Der Roman »Tage mit mir« entwirft Szenarien, wie dies gelingen kann. Im Fall von Helen Parry gehören Akzeptanz und Vergebung dazu. »Du musst wissen, dass ich meine Mutter geliebt habe, und sie –sie hat versucht, mich zu lieben, so sehr sie konnte«, erklärt sie. Und vielleicht ist die berührende Antwort dieses Romans: Wohin wir uns auch zurückziehen – unsere Herausforderungen folgen uns. Wir gewinnen Kraft, wenn wir uns ihnen stellen. Und innere Freiheit, wenn wir in der Lage sind, zu vergeben – uns selbst und denen, die uns verletzt haben. »Tage mit mir« ist ein Buch, das uns dabei hilft.