Kolumne von Dieter Dausien, Hanau

Lesen in Zeiten von Pest und Cholera

14. März 2022
von Börsenblatt

Wie kann man angesichts des Ukraine-Kriegs an Umsätze und Happy-Facebook-Postings zu denken? Was können, was sollten Buchhändler:innen in diesen schweren Zeiten leisten? Dieter Dausien, Inhaber des Buchladens am Freiheitsplatz in Hanau, hat seine Gedanken dazu für Börsenblatt online aufgeschrieben. 

Es ist Mitte März, draußen dauerhafter Sonnenschein – eine stabile Hochdrucklage prägt das Wetter. In den Vorgärten sprießen Krokusse und die ersten Osterglocken aus dem Boden. Eine verheißungsvolle Zeit, auch für den Buchhandel, der keinen Mangel an guten und gut verkäuflichen Titeln hat. Im Buchladen fangen wir an, die Osterdeko zu sichten, und überlegen, was auf welche Auslagen kommt. Soweit, so schön – könnte es sein. Wenn das Frühjahr 2022 nicht einen riesigen Makel hätte: Krieg in Europa!

Ist es moralisch überhaupt vertretbar, angesichts des unermesslichen Leids unserer Nachbarn noch an Umsätze und Happy-Facebook-Postings zu denken? 

Exakt mit dem 24. Februar wurde es bei uns still im Laden. Und auch nach 20 Tagen Krieg liegen die Umsätze weit hinter dem Vorjahr zurück. Das ist zu bedauern, natürlich hofft man, dass die Umsätze sich wieder erholen. Aber hofft man damit nicht auf einen Gewöhnungseffekt? Irgendwann ist die Realität des Krieges normal und die Menschen wenden sich wieder den schönen Dingen des Lebens zu. Darf man so denken?

Geht es einem selbst nicht vielmehr so, dass man seit dem 24. Februar paralysiert ist? Dass die kleinen Sorgen und Freuden des Alltags auf unter Null entwertet sind angesichts dessen, was die Menschen in der Ukraine gerade ertragen müssen? Ist es moralisch überhaupt vertretbar, angesichts des unermesslichen Leids unserer Nachbarn noch an Umsätze und Happy-Facebook-Postings zu denken? Kann man seine Wohnung schmücken, wenn vor der Haustür gestorben wird?

Und: Kann man tolle Romane lesen und empfehlen angesichts dessen, was uns noch bevorstehen wird? Mit steigenden Energiepreisen fängt es an, für uns spürbar zu werden, aber was kommt da noch? Arbeitslosigkeit? Eine neue Weltwirtschaftskrise? Neue Hungersnöte? Oder gar, man traut sich gar nicht, den Gedanken vom Hinterkopf ins Sprachzentrum zu holen: der dritte Weltkrieg?

Einerseits muss ich natürlich meinem Beruf nachgehen, also Menschen gute Bücher empfehlen. Andererseits halte ich das für denkbar unbedeutend gegenüber dem, was gerade passiert - und noch passieren kann.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich lebe seit Kriegsausbruch in einer Doppelwelt. Einerseits muss ich natürlich meinem Beruf nachgehen, also Menschen gute Bücher empfehlen. Andererseits halte ich das für denkbar unbedeutend gegenüber dem, was gerade passiert - und noch passieren kann.

Verstärkt wird dieses Gefühl noch dadurch, dass ich als politisch denkender Mensch zum ersten Mal keine Vorstellung davon habe, was jetzt das Richtige wäre. Wie sich eine EU, die Bundesregierung oder wir als Gesellschaft verhalten sollten. Ich sehe mit Schmerzen, dass angesichts der aktuellen Situation Verständigung, Rüstungskontrolle, Frieden schaffen ohne Waffen oder die Idee vom Wandel durch Handel tief geschädigt sind und rückwirkend als Traumtänzerei diskreditiert werden.

Dürfen wir Buchhändler den Wunsch nach Eskapismus bedienen?

Was ist bei all dem unsere Aufgabe als Buchhändler:in? Ganz sicher: Bücher anbieten, die Hintergründe beleuchten, erklären, wie es zum Krieg kommen konnte, die differenziert und nicht eindimensional informieren. Und sicher auch darin, den Wunsch nach Eskapismus zu bedienen, den Wunsch, sich in Romanwelten zu begeben angesichts dessen, was uns sonst permanent durch den Kopf geht? Dazu mag ich mich gar nicht bekennen, und doch freue auch ich mich, wenn ich durchs Lesen Abstand gewinnen kann – ohne dabei die Realität aus den Augen zu verlieren.

Es gibt gerade Dilemmata, aus denen gibt es keinen Ausweg, die muss man aushalten. Und denen helfen, die Opfer des Krieges sind.

Unser Kolumnist

Dieter Dausien (63) übernahm mit 18 Jahren die Buchhandlung seines verstorbenen Vaters in Hanau (heute Buchladen am Freiheitsplatz). Er engagierte sich damals in der Friedens- und Umweltbewegung, heute ehrenamtlich im Börsenverein, u.a. im Ausschuss für den Sortimentsbuchhandel. Er führt seine Buchhandlung kooperativ, sie erhielt bisher viermal den Deutschen Buchhandlungspreis. Im Börsenblatt schreibt er über Branchenthemen unter dem Lichte des buchhändlerischen Alltags.