Eine Lesetipp zum Interview der "Süddeutschen Zeitung" mit Nina Hugendubel (am 16. August; hinter einer Zahlschranke) findet sich auf Börsenblatt online:
Ruth Klinkenberg, die seit den 70er Jahren in der Marga Schoeller Bücherstube in Berlin tätig ist, ärgert sich in ihrem an Nina Hugendubel gerichteten Offenen Brief, der Börsenblatt online vorliegt, über die Aussage von Nina Hugendubel, bis Ende der 70er-Jahre habe es ja nur kleine Buchhandlungen gegeben, "die wie eine Apotheke geführt wurden: Bücher standen im Schrank und durften nicht angefasst werden." Dann sei Hugendubel mit einem neuen Konzept gekommen, "große Geschäfte, sogar mit Rolltreppen. Die Kunden konnten plötzlich an die Bücher ran, sich hinsetzen und darin lesen".
"Ich muss gestehen, dass mich diese Aussage fassungslos gemacht hat", schreibt Ruth Klinkenberg. Sie sei seit Ende der 60er-Jahre im Buchhandel, "und (nicht nur) ich kann Ihnen versichern, dass es zu dieser Zeit nicht nur kleine Buchhandlungen gegeben hat, sondern eine Reihe von großen, mittelgroßen und natürlich auch vielen kleinen". Als Beispiel für eine große nennt sie die Braun'sche Buchhandlung in Duisburg, wo sie Ende der 60er-Jahre gerabeitet habe: "Ein großes Sortiment aller Bereiche von der Belletristik bis zum Fachbuch auf drei Etagen. Nein, eine Rolltreppe gab es dort nicht, aber einen Fahrstuhl."
"Und Buchhandlungen, die wie Apotheken geführt wurden, mit Büchern in Schränken, an die die Kunden nicht heran kamen?", so Klinkenberg weiter: "Außer in sehr edlen Antiquariaten habe ich das nie gesehen, weder in Buchhandlungen, in denen ich gearbeitet habe, noch in denen, die ich besucht habe. Und das waren in dieser Zeit nicht wenige. Natürlich gab es hier und da Vitrinen oder auch mal einen Schrank für besonders wertvolle Bücher."
In jeder ihr bekannten Buchhandlung habe es auch damals freien Zugang zu den Regalen und in den meisten Fällen auch Sitz- und Aufenthaltsmöglichkeiten für die Kunden gegeben, um sich Bücher anzusehen oder anzulesen. "Das ist, tut mir leid, keine Neuerung der Firma Hugendubel gewesen."
Die Buchhändlerin schließt versöhnlich: "Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich schätze Ihren Vater und dessen Lebensleistung und kannte ihn persönlich." Aber man solle dennoch die Leistung des sehr lebendigen Buchhandels vergangener Jahrzehnte nicht negieren.
Es gab keinen Ladentisch im alten Sinne mehr, sondern für jedermann „zur Auswahl und Betrachtung“ frei zugängliche Fachabteilungen. Die umfangreichen Buchbestände wurden übersichtlich in Regalen und frontal auf Bücherbrettern und Auslagen an den Wänden präsentiert. Interessierte Kunden konnten Titel an Lesetischen und in bequemen Lehnstühlen in Augenschein nehmen.
Das war also wirklich in den 70ern alles schon erfunden.
In all dieser Zeit habe ich kleinere und größere Buchhandlungen kennengelernt, die in keiner Weise dem von Nina Hugendubel gezeichneten Bild entsprachen.
Auch ich will die Verdienste von Hugendubel nicht schmälern, aber die mir bekannten Buchhandlungen luden zum Stöbern und Verweilen ein, mit Sitzgelegenheiten und freier Zugänglichkeit der Regale!
By the way: Interessant fand ich auch noch diese Aussage im verlinkten BBL-Artikel: "In den Filialen mache Hugendubel 95 Prozent seines Umsatzes mit nur fünf Prozent der lieferbaren Titel. Deshalb bräuchte es auch keine riesigen Flächen in 1-a-Lagen mehr."
Zum einen zeigt das die Bestsellerfixierung des Filialbuchhandels. Zum anderen ist die Begründung, man brauche deshalb keine größeren Flächen mehr etwas eigentümlich. Denn die Frage ist ja immer, welche 5 % das sind und ob man mit der Verkleinerung der Fläche dann nicht auch die potenziellen Umsatzträger minimiert.
Wichtiger ist aber, was das für die Breite des Buchangebots bedeutet, wenn der Absatzmarkt sich weiter auf Filialisten konzentriert. Denn, was hier beschrieben wird, ist der Versuch, die "überflüssige" Präsenz einer großen Titelbreite einzudämmen zugunsten eines reinen Bestsellergeschäfts auf kleiner Fläche.
Die Neuerung von Hugendubel war doch weder die Fläche noch die Mehrgeschossigkeit noch die Selbstbedienung, sondern die Leseinseln zwischen den Etagen. Dass man sich einen Stapel Comics nehmen konnte und sich dort für ein oder zwei Stunden lesend niederlassen konnte, das war spektakulär. Das ging auch über die Sessel mit Leselampen in den Bücherstuben hinaus. Natürlich imponierte die Rolltreppe. Und das riesige Angebot. Und das moderne Design. Aber die Leseinseln waren nach meiner Erinnerung die Krönung.
Natürlich gab es alles irgendwann schon einmal. Nichts beginnt schlagartig, alles hat Vorläufer. Aber der Name Hugendubel war doch über einen langen Zeitraum Inbegriff für einen neuen Trend im Buchhandel, Taktgeber.