Interview mit Gerlinde Becker

„Es braucht ein ganzes Dorf, um eine Buchhandlung zu führen“

12. Juli 2023
Sabine Cronau

Gerlinde Becker betreibt „Hessens beste Dorfbuchhandlung 2023". Ihre Buchhandlung Lesezeichen in Lauterbach ist nicht nur ein Laden, sondern ein sozialer Treffpunkt. Hier wird genäht, für den „Lauterbacher Strolchenlauf“ trainiert, Geburtstag gefeiert, lokale Kunst auf Lesezeichen verschenkt. Wer Inspiration und Motivation sucht – der sollte dieses Interview lesen. Und die Aktionstipps am Ende.

Gerlinde Becker mit der Preisurkunde

Gerlinde Becker mit der Preisurkunde

Ministerpräsident Boris Rhein hat Ihnen vor wenigen Tagen die Auszeichnung als „Hessens beste Dorfbuchhandlung“ überreicht. Wie viele Interviews haben Sie rund um die Preisverleihung schon gegeben?

Viele, sehr viele. Aber das ist ja letztlich auch das Beste an einem solchen Preis: Die Aufmerksamkeit, die damit verbunden ist. Der Hessische Rundfunk war da und hat einen Film für die „Hessenschau“ gedreht, Zeitungen haben berichtet, auch Radiosender: Neulich kam eine Kundin vorbei, die gerade auf dem Weg von Gießen nach Fulda war und auf dem Kanal You FM einen Bericht über uns gehört hat.

Weil sie ohnehin ein Buchgeschenk brauchte, ist sie kurzerhand zu uns gefahren – um Hessens beste Dorfbuchhandlung mal kennenzulernen. Wir bekommen sogar deutschlandweit Resonanz. Das ist wirklich unglaublich. (Details zur Auszeichnung hier)

Lauterbach spielt Dorf: Straßenfest vor der Buchhandlung

Lauterbach spielt Dorf - beim Straßenfest vor der Buchhandlung

Lauterbach ist die Kreisstadt des Vogelsbergkreises und hat mehr als 14.000 Einwohner. Fühlen Sie sich da trotzdem als „Hessens beste Dorfbuchhandlung“?

(lacht) Man braucht immer etwas, an dem man sich abarbeiten kann. Klar, ein Dorf ist Lauterbach nicht. Dafür haben wir bei der Preisverleihung Dorf gespielt: mit Biertischen und Strohballen vor der Buchhandlung, einem Traktor mit Anhänger und Livemusik. 500 Gäste sind gekommen und haben zwei Stunden lang mit uns gefeiert. Hessens Ministerpräsident Boris Rhein, der uns den Preis überreicht hat, dachte erst, dass wir in Lauterbach gerade ein Volksfest haben…

Aber von der Preisverleihung ganz abgesehen: Ich bin selbst ein Dorfkind und lebe im Moment in einem 100-Seelen-Ort in der Nähe von Lauterbach. Ich sage gern in Abwandlung eines bekannten Sprichworts: Es braucht ein ganzes Dorf, um eine Buchhandlung zu führen. Denn genau so ist es: Von der Veranstaltungstechnik bis zum Bücherwagendienst – viele Menschen müssen mitanfassen, damit der Buchhandelsalltag so reibungslos gelingen kann.

Ich hätte die Buchhandlung nicht seit 30 Jahren, wenn ich den Laden einfach nur morgens aufschließen und abends wieder zusperren würde.

Gerlinde Becker, Buchhandlung Lesezeichen

Sie organisieren einen Lauftreff, lassen in Ihrer Buchhandlung Taschen nähen, laden zur Kriminacht, veranstalten ein Lesefestival mit – und Sie haben den Preis auch genau für diese Vielfalt bekommen. Was ist Ihr persönliches Lieblingsprojekt?

Oh, das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass Langeweile nichts für mich ist. Ich hätte die Buchhandlung nicht seit 30 Jahren, wenn ich den Laden morgens nur aufschließen und abends wieder zusperren würde. Eigentlich ist jede Woche was anderes los.

Vergangene Woche haben wir in der Buchhandlung einen 60. Geburtstag gefeiert, mit Sekt, Häppchen und Lesetipps, kommende Woche ist der evangelischen Frauenkreis zu Gast, und im September liest die Wiener Autorin und Buchhändlerin Petra Hartlieb aus ihrem Buch „Meine wundervolle Buchhandlung“ bei uns. Das passt jetzt natürlich perfekt zum Preis.

Logo Hessens beste Dorfbuchhandlung

Mit der Auszeichnung als „Hessens beste Dorfbuchhandlung“ haben Sie auch eine Lesung mit Charlotte Link Anfang September gewonnen. Gibt es eine Überraschung für die Gäste?

Wir haben einen „Lost Place“ als wunderbare Kulisse gefunden – ein altes, leerstehendes Backsteingebäude, das mal eine Hutfabrik war und der perfekte Schauplatz für einen Mord sein könnte. Eine Leiche würde dort locker drei Wochen lang nicht gefunden…

„Lost Place“ bedeutet für uns allerdings auch, dass wir Stühle, Technik und Getränke irgendwie dort hinbringen müssen. Besondere Ideen sind eben immer auch mit Arbeit verbunden. Das muss man schon wollen.

Was machen Sie mit dem Preisgeld von 10.000 Euro?

Das ist leider schon fast ausgegeben – ich hoffe, dass wir die Summe nicht auch noch versteuern müssen. Die Party vor der Buchhandlung hat einiges gekostet. Außerdem habe ich die Fassade der Buchhandlung vorher noch schnell streichen lassen.

Ich habe mich bei den Unternehmerfrauen im Handwerk engagiert und durch gute Kontakte eine Firma gefunden, die das in zwei Tagen für mich erledigt hat. Eigentlich wollte ich an dem Gebäude nichts mehr machen, weil es demnächst verkauft werden soll und ich nur Mieterin bin. Aber ich wusste ja, dass viele Filmteams und Fotografen kommen. Da sollte die Buchhandlung gut aussehen.

Zwei von 24 Lesezeichen

Zwei von 24 Lesezeichen

Die Lesezeichen, die wir seit 30 Jahren bei jedem Buchkauf verschenken, sind unser größter Werbeträger. Sie werden von Künstlerinnen und Künstlern der Region gestaltet und tragen auf der Rückseite unsere Adresse.

Gerlinde Becker, Buchhandlung Lesezeichen

Die Buchhandlung macht ihrem Namen „Lesezeichen“ alle Ehre: Bei jedem Buchkauf geben Sie ein Lesezeichen mit, das Künstler:innen aus der Region gestaltet haben und Motive aus Lauterbach zeigt. Wie viele verschiedene gibt es?

Wir haben inzwischen 24 Motive, gedruckt auf hochwertigem Papier. Die Lesezeichen dürften weltweit unterwegs sein und werden von manchen Kund:innen sogar gesammelt und gerahmt. Künstlerinnen und Künstler kommen mittlerweile auch direkt auf uns zu und bieten uns Motive an.

Eine Kundin hat mir sogar mal ein Bild ihres Mannes vorbeigebracht, damit wir ein Lesezeichen daraus machen. Als er beim nächsten Mal ein Buch bei uns gekauft hat, habe ich es dann über die Theke gereicht – und er hat sich wahnsinnig gefreut.

Noch mehr Spaß würde mir der Buchhandel übrigens machen, wenn man damit auch etwas Geld verdienen könnte. Das ist leider nicht immer leicht.

Gerlinde Becker, Buchhandlung Lesezeichen

In dem „Hessenschau“-Beitrag sagt eine Ihrer Mitarbeiterinnen, dass Sie bei allem, was Sie tun, nicht nur an den Laden denken – sondern immer auch daran, ob es Lauterbach guttut. Ist das so?

Ach, das hat mich sehr gefreut, dass sie das so formuliert hat! Und da ist sicher etwas dran. Ich engagiere mich zum Beispiel auch beim Stadtmarketing, was durchaus zeitintensiv ist. Neulich waren wir in Hanau, um uns dort über die Innenstadt-Initiative „Hanau aufLaden“ zu informieren.

Noch mehr Spaß würde mir der Buchhandel übrigens machen, wenn man damit auch etwas Geld verdienen könnte. Das ist nicht immer leicht. Gleichzeitig haben Buchhandlungen es immer noch gut. Viele andere kleine Geschäfte hätten Förderung und Aufmerksamkeit auch verdient, stehen aber nicht so im Fokus wie wir.

Wenn man sich Ihre vielen Ideen und Aktionen anschaut, fragt man sich: Wann schlafen Sie eigentlich? Zumal Sie auch noch sehr aktiv auf Instagram sind…

Erstens: Für Instagram habe ich schon vor eineinhalb Jahren eine junge Frau engagiert, die gerne im Buchhandel arbeiten wollte, sich im New Adult-Segment gut auskennt und unseren Instagram-Account im Home-Office betreut. Zweitens: Ich habe keinen Fernseher, das schafft eine Menge Freiraum. Drittens: Schlafen wird überschätzt… (lacht).

Aus dem Ideenkoffer der Buchhandlung Lesezeichen

Nähaktion in der Buchhandlung
Kund:innen nähen Bumerang-Taschen
  • Gegen 5 Euro Pfand gibt es selbstgenähte Stofftaschen von der Buchhandlung – die man entweder zurückbringen oder behalten kann.
  • Der Clou: Viele Kund:innen haben beim Nähen geholfen. Dafür hat Gerlinde Becker in der Buchhandlung einfach eine Nähmaschine aufgestellt, Stoffe aus dem Vorrat dazugelegt – und wer wollte, konnte sich am Taschenprojekt versuchen.
  • Ruckzuck waren 60 Beutel fertig. „Selber hätte ich gar nicht die Zeit, so viele fertigzustellen“, meint die Buchhändlerin.
Lauftreff
  • In Lauterbach findet im Frühsommer der „Strolchenlauf“ statt. Die Buchhandlung organisiert gemeinsam mit einer Trainerin einen Lauftreff.
  • Bei der Challenge tritt die Gruppe dann gemeinsam in orangefarbenen T-Shirts der Buchhandlung an. „Dabei darf ich mich einmal im Jahr wie Adidas fühlen“, witzelt Gerlinde Becker.
Beim Strolchenlauf
Schüler in der Buchhandlung
Leseförderung für Zweitklässler
  • Die zweiten Schulklassen in Lauterbach können sich für ein ganz besonderes Leseprojekt beim Lesezeichen bewerben. Die Buchhandlung schenkt jedem Kind einer teilnehmenden Klasse das Buch „Viele Grüße, Deine Giraffe“ (Moritz Verlag), in dem es um einen Brief geht.
  • Als Gegengabe müssen die Kinder Gerlinde Becker eigene Briefe schreiben – die dann im Schaufenster der Buchhandlung ausgestellt werden. Mit dem Verlag hat sie für die Aktion einen Sonderrabatt vereinbart. „Für diese Altersgruppe gibt es sonst keine Leseförder-Aktionen“, so Becker.
Events im Laden
  • Die Buchhandlung steht allen Gruppen in Lauterbach offen.
  • Ob 60. Geburtstag oder evangelischer Frauenkreis: Wer will, kann einen Abend im Laden verbringen, bei Sekt, Häppchen.
  • Dazu gibt es Buchtipps von der Chefin
24-Stunden-Buchhandlung
  • Der Laden war sogar schon mal rund um die Uhr geöffnet, von Samstagsmorgens bis Sonntagsmorgens.
  • Die Zeit dazwischen wurde gefüllt mit einem kleinen Café, einer offenen Musikbühne für junge Talente und einem Krimidinner.
  • Sonntags wurde zum Abschluss gemeinsam gefrühstückt.
Kim Bui signiert den "Autorenstuhl"
Der Autorenstuhl
  • Alle Autor:innen, die auf Einladung der Buchhandlung lesen, nehmen auf dem sogenannten Autorenstuhl Platz – ein alter Holzstuhl, beklebt mit Geschenkpapier aus Buchmotiven.
  • „Autor:innen dürfen ihn nach der Lesung signieren – aber nur die netten“, so Gerlinde Becker.
  • Auf dem Stuhl verewigt haben sich beispielsweise schon Joachim Gauck und Volker Lechtenbrink. Auf dem Foto signiert gerade Leitungsturnerin Kim Bui, die ihr Buch in Lauterbach vorgestellt hat.
Gewinnspiele
  • Gewinnspiele sind für Gerlinde Becker ein wunderbares Instrument der Kundenbindung. Sie lobt gerne eine Übernachtung in der Buchhandlung aus, dazu gibt’s einen 100-Euro-Gutschein für Bücher. „Das kostet nicht viel, aber die Kunden freuen sich sehr darüber“.
  • Jüngste Aktion: Eine Cover-Kopf-Challenge vor einer Fotowand in der Buchhandlung. Das Ergebnis wird natürlich auf Instagram geteilt.
Instagram-Aktion
Logo Der Vulkan lässt lesen
Lesefestival

„Der Vulkan lässt lesen“ heißt ein Festival im Vogelsbergkreis, das vom örtlichen Energieversorger OVAG gemeinsam mit den Buchhandlungen Lesezeichen in Lauterbach und Lesenswert in Alsfeld organisiert wird.

Die Sparkasse Oberhessen fördert die Reihe durch Bereitstellung ihrer Räumlichkeiten und Rabatte bei den Tickets an Kunden. Manfred Krug, Roger Willemsen, Jan Seghers, Norbert Blüm, Feridun Zaimoglu, Hellmuth Karasek, Wladimir Kaminer, Sky du Mont: Sie alle haben hier schon gelesen.

Ein Videospaziergang durch die 80 Quadratmeter große Buchhandlung