Zwischen Fakten und Fiktion | ANZEIGE

Das Philosophenschiff

1. Februar 2024
Redaktion Börsenblatt

Michael Köhlmeier hat für seine Bücher zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Mit „Das Philosophenschiff“ ist ihm ein weiterer großer Wurf gelungen.

Die renommierte Architektin Anouk Perleman-Jacob lädt zu ihrem 100. Geburtstag einen Schriftsteller ein. Die Bitte: Ihr Leben als Roman zu erzählen. Es ist eine bewegte Lebensgeschichte: In Sankt Petersburg geboren, erlebte Perleman-Jacob als Kind den bolschewistischen Terror. Als vierzehnjähriges Mädchen wird sie mit ihren Eltern – der Ornithologin Maria Perlemann und dem Universitätsprofessor Michail Jacob –  mit anderen Intellektuellen auf einem der sogenannten „Philosophenschiffe“ auf Lenins Befehl ins Exil deportiert. Fünf lange Tage und Nächte treibt das Schiff auf dem Finnischen Meerbusen, dann wird ein letzter Passagier an Bord gebracht und in die Verbannung geschickt: Es ist Lenin selbst.

 

Was ist wahr an dieser Geschichte? Und was ist frei erfunden? Köhlmeier verwebt in „Das Philosophenschiff“ kunstvoll Fakten und Fiktion. Nicht zum ersten Mal wählt er eine historische Begebenheit als Ausgangspunkt für seine Romane: Mit „Zwei Herren am Strand“, seiner Geschichte über die unerwartete, etwas bizarre Männerfreundschaft zwischen Winston Churchill und Charlie Chaplin, begeisterte er seine Leserschaft. Giganten der Weltgeschichte nahbar werden lassen, so dass wir ihnen auf Augenhöhe begegnen können – das gelingt ihm auch in seinem neuen Roman „Das Philosophenschiff“.

Michael Köhlmeier

Anouk Perleman-Jacob, gefangen auf dem großen Schiff, klettert heimlich auf einer Leiter bis in die erste Klasse empor und trifft dort auf den verspäteten Passagier – auf Lenin selbst. Russlands Revolutionär mit dem brutalen Willen zur Macht sitzt geschwächt von seinen Schlaganfällen im Rollstuhl und liest. Das Mädchen und der Politiker beginnen ein Gespräch, das die Reise über andauert. Bolschewistischer Terror, Vertreibung, Verzweiflung und Tod –„Das Philosophenschiff“ erzählt einerseits von den Auswirkungen einer brutalen Epoche. Andererseits zoomt Köhlmeier in seiner Erzählung so nah an die persönlichen Schicksale seiner Protagonisten heran, dass Historie und Politik in den Hintergrund treten: Es ist die erste Liebe von Anouk Perleman-Jacob, die zählt. Es sind die Ängste und Sehnsüchte ihrer Eltern, die sich Trost in Liebschaften suchen. Es ist der schwache Revolutionär auf dem Sonnendeck und das Schweigen über das Unfassbare, das durch seine Zeilen klingt.

 

Dabei stellt Köhlmeier schwerwiegende Fragen, die heute so aktuell sind wie damals: Was bringt Menschen dazu, nach politischer Macht zu streben, andere zu vertreiben oder zu töten und Leben zu zerstören? 

 

„Einer zerstört ein ganzes Land, richtet Millionen Menschen zu Grunde, lässt Millionen umbringen, schafft eine neue Gesellschaft – man denkt, solche Männer handeln aus ebenso großen Motiven, weltumfassenden Motiven, Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Friede, Ordnung, Ruhe. Und dann stellt sich heraus, es ist gar nicht so. Er ist gekränkt worden, persönlich gekränkt. Wie die Millionen, die er ins Unglück stürzt, auch irgendwann einmal gekränkt worden sind. Weil ihnen einer die Frau ausgespannt hat, weil ihn ein anderer in der Arbeit vorgezogen wurde, weil ihnen einer ins Gesicht gesagt hat, was für arme Würstchen sie sind. Der eine haut auf den Tisch, beißt sich in die Faust, schreibt ein Leserbrief – der andere zündet die ganze Welt an.“

 

Hundert Jahre sind vergangen, seit die Philosophenschiffe St. Petersburg verlassen haben. Die Gefahren und die Fragen sind heute wie damals dieselben. Der neue Roman von Michael Köhlmeier lädt zu einer bereichernden und berührenden Zeitreise ein.

 

Michael Köhlmeier
Das Philosophenschiff
224 Seiten 
€ 24,– [D]
HANSER