Bye, bye, Barrieren
Nur noch drei Jahre Zeit – dann müssen E-Books und Webshops in der gesamten EU barrierefrei sein. Der Börsenverein hilft beim Anti-Hürdenlauf mit Leitfäden und Webinaren.
Nur noch drei Jahre Zeit – dann müssen E-Books und Webshops in der gesamten EU barrierefrei sein. Der Börsenverein hilft beim Anti-Hürdenlauf mit Leitfäden und Webinaren.
28. Juni 2025: Diesen Termin sollten sich Verlage und Buchhandlungen signalrot im Kalender markieren – auch wenn sie im Moment noch vollauf mit der Pandemiebewältigung beschäftigt sind. Denn ab diesem Stichtag müssen Webshops, E-Books und E-Reader barrierefrei gestaltet sein, damit zum Beispiel blinde und sehbehinderte Menschen sie ohne Abstriche mit Assistenzsystemen nutzen können. Texte und Inhalte sind also so aufzubereiten, dass etwa Bildschirmvorleseprogramme die Strukturen und Hierarchien erkennen und akustisch oder taktil wiedergeben können.
Eine entsprechende EU-Richtlinie, der sogennante European Accessibility Act, ist 2019 verabschiedet und im Mai 2021 mit dem "Barrierefreiheitsstärkungsgesetz" in deutsches Recht umgesetzt worden. Die Neuregelung gilt für alle Produkte und Dienstleistungen. Das Ziel: Menschen mit Behinderung Zugang zu Wissen, Bildung und somit zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe zu ermöglichen.
Für Verlage und Buchhandlungen sollte das Thema Barrierefreiheit deshalb auch eine Herzenssache sein, meint Peter Kraus vom Cleff: "Das Vermitteln von Information und Bildung an alle Leser:innen ist für die Buchbranche ein Kernanliegen und gehört zu unserem Selbstverständnis", so der neue Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, der die Entstehungsgeschichte der EU-Richtlinie bereits als Präsident des europäischen Verlegerverbands FEP mitverfolgt hat. "Ein barrierefreier Zugang zu Literatur und Wissen ist ein wichtiger Schritt zu mehr Gleichberechtigung für Menschen mit Behinderung – und eine Chance, ihre Bedürfnisse und Wahrnehmungsmöglichkeiten stärker in den Fokus zu rücken."
Klar ist aber auch: Um diesen Anspruch einzulösen, muss die Branche bis 2025 noch jede Menge Hausaufgaben machen. "Die erforderlichen Umstellungen betreffen alle in der Buchbranche: Sortimentsbuchhandel, Zwischenbuchhandel, Verlage sowie deren Dienstleister und Partner", so Dana Minnemann, Sprecherin der Taskforce Barrierefreiheit, die der Börsenverein im Herbst 2020 gegründet hat. Minnemann arbeitet beim Deutschen Zentrum für barrierefreies Lesen in Leipzig (dzb Lesen), Kooperationspartner des Börsenvereins in Sachen Barrierefreiheit.
Um die gesamte Branche mitzunehmen in die neue Welt des hürdenlosen Publizierens, hat die Taskforce Barrierefreiheit jetzt ein dickes erstes Informationspaket mit Praxistipps geschnürt. Dazu gehören:
Der Leitfaden, der sich mit der barrierefreien Umsetzung von E-Books im EPUB3-Format beschäftigt, nennt gleich am Anfang einen zentralen Pluspunkt der Barrierefreiheit: Publikationen, die nach diesen Kriterien produziert werden, sind letztlich oft die besseren Dokumente für alle Leserinnen und Leser – weil sie sich auch bei schlechten Lichtverhältnissen, motorischen Einschränkungen wie Tremor, bei Sehschwäche oder Epilepsie problemlos nutzen lassen. Kurzum: Der Kreis der potenziellen Leser:innen wird größer.
Bei der Umstellung bringen EPUBs besondere Vorteile mit sich: "Sehr viele Anforderungen der Barrierefreiheit lassen sich hier über vollautomatische Arbeitsschritte erfüllen", weiß Carsten Schwab, als Geschäftsleiter Herstellung bei Diogenes schon lange mit dem Thema befasst. "Dafür benötigt man allerdings strukturierte Inhaltsdaten und Produktionsprozesse, die eine entsprechende Automatisierung überhaupt erst ermöglichen. Wer diese Voraussetzungen (noch) nicht erfüllt, hat eine große Aufgabe vor sich."
Schwab hat den EPUB-Leitfaden verantwortlich mitentwickelt. Sein Praxistipp für die Anwendung: "Nutzen Sie die Hilfestellungen der Taskforce, sprechen Sie mit den Betroffenen und mit Ihren technischen Dienstleistern. Und dann fangen Sie dort an, wo Sie bereits mit relativ wenig Aufwand einen vergleichbar hohen Nutzen stiften können."
Besonders wichtig bei E-Books im EPUB-Format ist die Trennung von Inhalt und Gestaltung: Die hierarchische Struktur des Textes muss aus der Codierung der Daten hervorgehen und sich auch ohne typografische Auszeichnungen erschließen, damit Sprachsoftware sie akustisch nachbilden kann. Überschriften etwa dürfen nicht einfach im Schriftgrad vergrößert sein, sondern müssen durch Verwendung der entsprechenden HTML-Elemente kenntlich gemacht werden.
Grundsätzlich gilt, dass sich Barrierefreiheit umso einfacher herstellen lässt, je früher sie im Prozess berücksichtigt wird. Das beginnt idealerweise bereits bei den Autor:innen. Mit ihrem Fachwissen können sie zum Beispiel Alternativtexte für Abbildungen formulieren, die mit Worten veranschaulichen, was dort zu sehen ist.
"Je früher, desto besser!": Dieses Motto für einen ganzheitlichen barrierefreien Produktionsprozess gibt auch der Leitfaden aus, der sich dem Thema PDF widmet. "Die technische Herausforderung sehe ich nicht als Problem, die ist gut lösbar", sagt Armin Köhler, Herstellungsleiter Digital bei der Penguin Random House Verlagsgruppe. "Wichtig bei der Produktumsetzung ist es, möglichst von Beginn an Barrierefreiheit mitzudenken sowie einen standardisierten Produktionsprozess zu nutzen", so Köhler, der den PDF-Leitfaden federführend mitbetreut hat. Das Papier gibt einen Überblick über Anforderungen an barrierefreie PDFs, über die Verwendung von Tags – und über technische Hilfsmittel. Sehr nützlich beim Thema E-Book:
Die drei kostenlosen Leitfäden zur Barrierefreiheit von EPUB-Format, PDF und Webseiten sind abrufbar unter
www.boersenverein.de/barrierefreiheit:
Das umfangreiche Handbuch
"E-Books ohne Barrieren" steht hier ebenfalls zum Download bereit.
Die Corona-Krise hat gezeigt, dass gut funktionierende Webshops für die Branche überlebenswichtig sind. Auch der E-Commerce muss ab 2025 barrierefrei laufen. Was ist der größte Arbeitsbrocken, den Verlage und (Zwischen-)Buchhandel aus dem Weg zu räumen haben?
Tobias Streitferdt, Director Metadata & Systems bei den Holtzbrinck Buchverlagen, hat dazu eine gute Nachricht: "Die einzelnen Maßnahmen sind für sich nicht sonderlich aufwendig. Viele betreffen den Code der Website und können relativ einfach umgesetzt werden", so der Sprecher der Arbeitsgruppe, die den Leitfaden zur Barrierefreiheit von Webseiten (und Webshops) entwickelt hat. Trotzdem sollten Verlage und Buchhandlungen die Vorbereitungen auf die neue Gesetzeslage 2025 nicht unterschätzen: "Barrierefreiheit betrifft viele Bereiche, das heißt die Überprüfung des Status quo ist bereits ein gewisser Aufwand", warnt Streitferdt. "Hier wäre eine Test-Software für Webshops – wie sie etwa für EPUBs beim dzb lesen existiert – eine große Hilfe."
Einstweilen können die Unternehmen auf den frisch erschienenen Leitfaden des Börsenvereins zurückgreifen: Er helfe bereits dabei, die wichtigsten Stellen im Webauftritt auf Barrierefreiheit zu überprüfen, meint Tobias Streitferdt. "Das macht man am einfachsten mithilfe einer Checkliste, in der man für jede Anforderung Punkte oder Noten vergibt."
Wichtig für Webshops: die schnelle, intuitive, logische Platzierung wichtiger Funktionen (Warenkorb rechts oben, Suche oben mittig oder rechts, Registrieren, Login, Sprachwahl ebenso oben rechts). Die Reihenfolge der Formularfelder während eines Kaufprozesses sollte ebenfalls linear und erwartbar sein, so der Leitfaden. Und: "Es muss sichergestellt werden, dass ein Onlineshop auch ohne die Verwendung einer Maus navigierbar ist."
Italien gehört europaweit zu den Pionieren barrierefreien Publizierens. Dort gibt es etwa ein eigenes Gütesiegel für hürdenlose E-Books, entwickelt von der Fondazione LIA: "Vielleicht lohnt es sich ja, auch in Deutschland über ein solches Zertifikat nachzudenken", regt Generalsekretärin Cristina Mussinelli an.
Die Fondazione LIA wurde vom italienischen Verlegerverband AIE und der Blinden- und Sehbehindertenvereinigung UICI gegründet. Die Stiftung hat das Handbuch "E-Books ohne Barrieren" herausgegeben, das Börsenverein und dzb lesen jetzt in einer deutschen, erweiterten Fassung vorlegen. Der Ratgeber behandelt unter anderem das Schlüsselthema Metadaten – und basiert auf den vielfältigen Erfahrungen der Fondazione LIA. So hat die Stiftung einen Katalog für barrierefreie Titel entwickelt, die in Italien bei kommerziellen Verlagen erschienen sind (www.libriitalianiaccessibili.it) – erarbeitet mit 76 Verlagen, dem Blinden- und Sehbehindertenverband und weiteren Partnern.
Ein Ökosystem für barrierefreies Publizieren, das die komplette Wertschöpfungskette umfasst: Das ist letztlich das Ziel der neuen EU-Richtlinie. Der Blick nach Italien, in das Handbuch und auf die Fondazione LIA zeigt der deutschen Branche, was in diesem Ökosystem so möglich ist.
Für alle, die sich noch nicht auf den Weg gemacht haben: Ein guter Start sind die Webinare, die der Börsenverein jetzt anbietet. Frei nach dem Motto: Wenn man einmal angefangen hat, geht’s.
Die technische Herausforderung sehe ich nicht als Problem, die ist gut lösbar. Wichtig bei der Produktumsetzung ist es, möglichst von Beginn an Barrierefreiheit mitzudenken sowie einen standardisierten Produktionsprozess zu nutzen. Zudem muss dafür gesorgt werden, dass alle Beteiligten für das Thema sensibilisiert werden und das notwendige Wissen haben. Das ist in Zeiten des schnellen technischen Wandels die eigentliche Herausforderung!
Das EPUB-Format hat den Vorteil, dass man sehr viele Anforderungen der Barrierefreiheit über vollautomatische Arbeitsschritte erfüllen kann. Dafür benötigt man allerdings strukturierte Inhaltsdaten und Produktionsprozesse, die eine entsprechende Automatisierung überhaupt erst ermöglichen. Wer diese Voraussetzungen (noch) nicht erfüllt, hat eine große Aufgabe vor sich.
Prüfen Sie anhand des Leitfadens, den der Börsenverein zum Thema herausgegeben hat, wie es um die Barrierefreiheit Ihres Webshops beziehungsweise Ihrer Website steht. Das macht man am einfachsten mithilfe einer Checkliste, in der man für jede Anforderung Punkte oder Noten vergibt. So erhält man schnell einen Überblick über die größten Schwachstellen, die man dann priorisiert schrittweise beheben kann.
Unsere Erfahrung in Italien: Auch in kommerziellen Kanälen müssen Leser:innen detaillierte, übereinstimmende Informationen zu barrierefreien Publikationen finden – damit sie wissen, wo sie solche Titel bekommen und was diese auszeichnet. Vielleicht lohnt es sich ja, über die Einführung eines Zertifikats für barrierefreie E-Books nachzudenken, so wie wir es in Italien haben.
2025 scheint noch weit entfernt zu sein, aber es sind Anpassungen in vielen Bereichen nötig. Wer sich schon jetzt mit unseren Leitfäden und Webinaren informiert und Vorkehrungen trifft, ist gut vorbereitet.
Die Taskforce Barrierefreiheit im Börsenverein und die IG Digital laden zu kostenlosen Zoom-Webinaren rund um das Thema Barrierrefreiheit ein (danach exklusiv im Mitglieder-Bereich abrufbar):