Es gibt aber etwas noch Wichtigeres, Zentrales, was der Lektor gemeinsam hat mit dem Kritiker. Beide sehen vor sich einen Text, den sie beurteilen sollen; der eine will ein ungedrucktes Manuskript gegebenenfalls verbessern helfen; der andere sagen, was das gedruckte Buch nun eigentlich ist und ob‘s am Ende etwas taugt. Woher nehmen sie ihre Kriterien? Natürlich aus der eigenen Vorstellung von Sprache, Poesie, Literatur. Ich muss wissen, was ich tue; wissen, warum ich das tue, was ich tue; wissen, was Literatur für mich ist, was ich von ihr will; wissen, wofür ich arbeite und mich einsetze und: wogegen. Doch ich muss das Fernrohr auch umdrehen: Muss mich konsequent einlassen auf das, was der Autor will, dessen Manuskript ich vor mir habe. Nichts ist sinnloser, als dass der Lektor dem Autor mitteilt, er selbst hätte an Stelle des Autors ein anderes Buch geschrieben oder dieses hier anders. Die Kriterien, die der Lektor braucht, um dem Manuskript tatsächlich helfen zu können, müssen jetzt aus dem Manuskript selber kommen, aus dem, was der Autor will, aus seiner Vorstellung von Sprache, Poesie, Literatur. Und wenn diese Vorstellung mit der des Lektors prinzipiell kollidiert – dann sollten die beiden sich voneinander verabschieden.
Und genau an diesem Punkt unterscheiden sich Lektor und Kritiker nur wenig. Auch als Kritiker brauche ich meine Kriterien, meine eigene Vorstellung von Sprache, Poesie, Literatur, muss wissen, was Literatur für mich ist, was ich von ihr will; wofür ich mich einsetze und wogegen. Schaue ich aber lesend in das gedruckte Buch, dann muss ich mich konsequent einlassen auf das, was der Autor will. Nichts sinnloser, als dass der Kritiker dem Autor ins Stammbuch schreibt, er selbst hätte an seiner Stelle ein anderes Buch geschrieben oder dieses hier anders. Sie alle kennen die vielzitierte Frage von Lichtenberg: „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“ Nein, es ist nicht immer das Buch, aber auch nicht immer der Kopf. Ich möchte mich auf keine Zahlenspekulation einlassen, woran es häufiger liegt, aber eins ist sicher: So, wie ich für manche Bücher genau der richtige Kritiker bin, bin ich für andere definitiv der falsche. Bloße Geschmacksfragen haben in der Kritik keinen Platz, und salopp gesagt, es gibt Bücher, mit denen der Kritiker einfach nichts anzufangen weiß, und dann wird er auch keine sinnvolle Kritik schreiben. Die Kriterien, die er braucht, um dem Buch gerecht zu werden, müssen jetzt aus dem Buch selber kommen, aus dem, was der Autor will, aus seiner Vorstellung von Sprache, Poesie, Literatur. Und wenn die Vorstellung des Kritikers mit der des Autors prinzipiell kollidiert – dann könnte es vielleicht besser sein, der Kritiker würde sich von dem Buch verabschieden.