Zum 85. Geburtstag von Claudio Magris

"Wir glauben, dass die Gegenwart ewig sei"

10. April 2024
Redaktion Börsenblatt

Friedenspreisträger Claudio Magris, der an diesem Mittwoch (10. April) seinen 85. Geburtstag feiert, gehört zu den glühendsten Verfechtern eines Europas ohne Grenzen. Seine Dankesrede von 2009 klingt heute nahezu prophetisch. Ein Glückwunsch von Martin Schult.

Claudio Magris bei der Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche

Viele Utopien von einem Paradies auf Erden sind verflogen, doch nicht verflogen ist die For­derung, dass die Welt nicht nur verwaltet, son­dern vor allem auch verändert werden muss. »Ändere die Welt, sie braucht es!«, forderte Bertolt Brecht. Ändere sie auch, wenn alles dich drängt zu glauben, dass dies unmöglich sei.

(Aus der Friedenspreisrede von Claudio Magris)

"Widerreden" in Budapest

2012 macht die Ausstellung »Widerreden – 60 Jahre Friedenspreis des Deutschen Buchhandels« Station auf dem Internationalen Buchfestival in Budapest. Im zweiten Jahr der Regierung Orbáns mit ihren national-konservativen Bestrebungen und dem Bemühen, sich von Europa abzugrenzen, eröffnet das Festival mit einem politischen Bekenntnis, in dem es den »Budapest Grand Prize« an einen großen Europäer verleiht, an Claudio Magris, der drei Jahre zuvor den Friedenspreis erhalten hat.

Die Stimmung auf dem Festival ist dennoch getrübt. Durch die Einführung der Mehrwertsteuer auf Bücher, die Streichung von Zuwendungen für die Kultur sowie das umstrittene Mediengesetz scheint die Regierung alles daran zu setzen, die Freiheit der Kultur und der Presse einzuschränken, wenn nicht gar zu zerstören.

Früher habe es Zensur gegeben, erzählt ein ungarischer Verleger, gleichzeitig aber auch finanzielle Förderung, da es zur Selbstlegitimation gehört habe, den kulturellen Charakter zu betonen. Nun aber sei eine Situation entstanden, in der die Kultur einfach ausgeblutet werde.

Drei Friedenspreisträger in Budapest: Péter Esterházy, György Konrád und Claudio Magris mit Martin Schult, Friedenspreisreferent beim Börsenverein (v.l.)

Ein Mensch der nachdenklichen Töne

Vielleicht ist das der Grund, warum die Eröffnung der Friedenspreis-Ausstellung auf so großes Interesse stößt. Neben Magris sind mit Péter Esterházy und György Konrád noch zwei weitere Friedenspreisträger anwesend. Zum ersten Mal spürt man auf dem sonst eher stillen Festival eine Erwartungshaltung, dass endlich über die politische Stimmung im Lande gesprochen wird, was Esterházy auch gleich einlöst: »Friedliche Proteste können vieles bewegen.«

»Schriftsteller wissen über Politik auch nicht mehr als andere Menschen«, fügt Claudio Magris hinzu, aber gerade wegen ihrer Fähigkeiten, sich auszudrücken, sei ihr Eintreten für Frieden und Freiheit so wichtig. Man merkt ihm an, dass er sich hier, zwischen zwei prominenten Kollegen, sichtlich wohler fühlt als zuvor bei der Preisverleihung.

Natürlich genießt er die Bühne, die man ihm gibt, aber da der Literaturwissenschaftler weniger ein Mensch der lauten, sondern eher der nachdenklichen Töne ist, setzt ihn eine zu große Aufmerksamkeit mitunter gehörig unter Druck – was er, wie er zugibt, auch damals bei der Friedenspreisverleihung gespürt habe.

Angesichts der früheren Preisträger*innen, die für die Menschenrechte ihr Leben oder ihre Freiheit aufs Spiel gesetzt hätten, habe er sich fast unbedeutend und zu Unrecht ausgezeichnet gefühlt. Das Publikum widerspricht. Als er mit feiner Rhetorik den Widerspruch zwischen den Bedürfnissen des Einzelnen und den Absichten eines immer autoritärer werdenden Staats erklärt, wird stark applaudiert.

Der neue Populis­mus, der heutzutage mehr oder weniger überall in Europa umgeht, schafft, wie ein Historiker schrieb, Demokratien ohne Demokratie. Er ist eine Gefahr für die Demokratie und für den Frieden – jede Bedrohung der Demokratie ist eine Gefahr für den Frieden, ganz gleich in welcher Form sie auftritt.

(Aus der Friedenspreisrede von Claudio Magris)

An der Grenze zwischen Ost und West

1939 in Triest geboren, wächst Claudio Magris in einer Region auf, die eine wechselhafte Geschichte hinter sich hat. Das ehemalige, von Kelten und Illyren bewohnte Tergeste wird unter den Römern zu einem exklusiven Urlaubsort, der nach dem Untergang des Römischen Reiches an Bedeutung verliert und sich fortan im Handel versucht.

Um aus den Schatten Venedigs zu treten, unterwirft sich die Stadt 1382 den Habsburgern und wird zum wichtigsten Hafen des K.u.K., der Monarchie, in dem auch die österreichische Marine stationiert ist. Nach dem Ersten Weltkrieg wird Triest italienisch, nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig.

Seine Jugendzeit verbringt Magris somit in einem Land namens »Freies Territorium Triest«, das ungefähr die Größe des heutigen Berlin hat, aber nur ein Zehntel der Bevölkerung. Nach Zustimmung der Vereinten Nationen im Jahr 1947 gegründet, existiert das Land mit eigener Nationalhymne und Währung jedoch nur für sieben Jahre, denn es liegt genau auf der Grenze zwischen Ost und West, was sich im Kalten Krieg als nicht sehr nachhaltig erweist.

So wird Triest wieder italienisch, beherbergt Universitäten, Hochschulen und Institute, aber auch die über die Landesgrenzen hinaus bekannte Illy-Kaffeerösterei. Die Mischung aus habsburgischer und italienischer Kaffeehauskultur steht sinnbildlich für diese Stadt mit ihrem offenen, dem Meer zugewandten Gesicht. Und hier, insbesondere in dem auch durch ihn bekannt gewordenen Caffè San Marco, wächst das Interesse des jungen Germanisten Claudio Magris, sich die Geschichte Triests genauer anzuschauen.

Die Mischung aus habsburgischer und italienischer Kaffeehauskultur steht sinnbildlich für diese Stadt mit ihrem offenen, dem Meer zugewandten Gesicht. Hier wächst das Interesse des jungen Germanisten Claudio Magris, sich die Geschichte Triests genauer anzuschauen.

Martin Schult, beim Börsenverein Referent für den Friedenspreis

Der "Kolumbus von Triest"

In Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur (Zsolnay Verlag 2000, übersetzt von Madeleine von Pásztory), Magris‘ 1963 veröffentlichter Doktorarbeit, beschäftigt er sich mit diesem habsburgischen Vielvölkerstaat, der mit seinem religiös aufgeladenen Staatsideal, seiner positiv ausgelegten bürokratischen Mentalität und seiner hedonistischen Hinwendung zu Oper, Literatur, Kunst und Kaffee- und Wirtshauskultur für mehr als 600 Jahre eine Region geprägt hat, die man heutzutage gerne Mitteleuropa nennt.  

Die Literaten jener Zeit wie auch seine Heimatstadt werden zu Themen seiner folgenden Bücher, bevor die Erlebnisse einer Jahre dauernden Reise 1986 zu einer Veröffentlichung führen, die als sein Opus Magnum gilt: Donau. Biographie eines Flusses (Carl Hanser Verlag, München 1988, übersetzt von Heinz-Georg Held). Als ein »Kolumbus von Triest«, wie ihn ein Feuilletonist der NZZ später bezeichnet, bereist er vom Schwarzwald bis zum Schwarzen Meer die von der Donau durchzogenen Ortschaften und Regionen und »entdeckt« somit eine Region wieder, die seit 1945 von Grenzen und Zäunen durchzogen ist, doch der habsburgische Mythos aber noch immer vorhanden zu sein scheint.

Jedes Land hat seinen Osten, den es abzuwehren gilt. Heute ist diese Grenze nicht aufgehoben, sondern nur verschoben, um einen anderen, noch östlicheren Osten auszuschließen. Eine Grenze, die nicht als Durchgang, sondern als Mauer, als Bollwerk gegen die Barbaren, erlebt wird, bildet ein latentes Kriegspotential.

(Aus der Friedenspreisrede von Claudio Magris)

Eine Vision wird Wirklichkeit

Dieses wiederentdeckte Mitteleuropa wird drei Jahre später vom Eisernen Vorhang befreit und findet sich heute zu großen Teilen in der Europäischen Union wieder. Für Magris ist seine Vision Wirklichkeit geworden, und so wird er seitdem nicht müde, sich sowohl als Kolumnist für den "Corriere della Sera" als auch für zwei Jahre als linker Senator im italienischen Senat über die Möglichkeiten eines von seinen Grenzen befreiten Europas einzusetzen, in dem sich nicht nur die dort existierenden Kulturen gegenseitig bereichern, sondern das auch Heimat für Menschen anderer Kulturen werden könnte.

Dieses Engagement und seine weiteren Romane, Erzählungen, Essaysammlungen und wissenschaftlichen Abhandlungen werden mit zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen bedacht, darunter 2009 auch mit dem Friedenspreis. Eine Feuilletonistin der "FAZ" ist darüber ungehalten: »Nichts gegen Claudio Magris. Aber die Entscheidung, dem allseits geschätzten Autor den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zu verleihen, ist bereits seit Jahren so naheliegend, dass sie jetzt in ihrer Einfallslosigkeit schon wieder kühn anmutet.«

Die Resonanz auf die Preisverleihung ist groß, doch nicht überbordend, was aber weder an Magris und seiner politisch engagierten Dankesrede noch am Friedenspreis liegt, sondern an dem Umstand, dass wir uns an ein freies Europa gewöhnt zu haben glauben.

In der Nachbetrachtung klingen seine Worte jedoch angesichts einer sich vornehmlich immer noch an Ökonomie und Bürokratie orientierenden EU, dem Brexit und weiterer Auflösungserscheinungen, der Flüchtlingsproblematik sowie dem in der Ukraine herrschenden Krieg geradezu prophetisch, wie die in diesem Text verwendeten Zitate zeigen.

Eine weitere Gefährdung des realen Frie­dens lauert in der biederen Überzeugung, dass der Fortschritt bereits verwirklicht wurde, dass die Zivilisation die Barbarei besiegt habe und dass der Krieg, zumindest in unserer Welt, aus­gerottet sei – so wie das Gelbfieber oder die Pocken durch die Impfung. Von Krieg wird nicht gesprochen, selbst wenn es ihn gibt; er wird nicht erklärt, selbst wenn man Bomben wirft.

(Aus der Friedenspreisrede von Claudio Magris)

Auf einer Wellenlänge

Claudio Magris dankt in seiner Rede auch Ragni Maria Gschwend, die von 1995 bis zu ihrem Tode 2021 all seine Bücher übersetzt. Für sie ist jede Reise zu ihrem Autor nach Triest ein literarisches wie sprachwissenschaftliches Abenteuer. Als hochgeschätzter Germanist geht Magris mit ihr die Übersetzung Satz für Satz durch, verbunden mit Lob und Kritik, aber vor allem mit einer großen Dankbarkeit, dass jemand mit ihm in einer anderen Sprache eins geworden ist.

Mit ihm auf eine Wellenlänge zu kommen, sei es durch die Lektüre seiner Bücher oder während eines Besuches in Triest, ist tatsächlich wie das Salz in einer sonst faden Suppe.

Ich lerne Magris und seine Stadt 2009 kennen. »Prost mein Engel«, fällt mir beim ersten Abendspaziergang durch die aufgeheizten Straßen auf, ein Spruch, der auf einer Laterne an einem Restaurant mit Engel-Bierausschank steht, sinnbildlich aber auch für die gesamte Stadt gilt, die einen Fremden wie mich mit offenen Armen begrüßt.

Eher zurückhaltend wirkt Claudio Magris, als er mir am nächsten Tag die Hand schüttelt. Bei einem formidablen Mittagessen planen wir seine Reise nach Frankfurt und seinen Auftritt in der Paulskirche, bis er mich etwas fragt, was ihm anscheinend schon die ganze Zeit auf der Seele liegt und was mich kein anderer Friedenspreisträger, keine andere Friedenspreisträgerin zuvor und danach gefragt hat: »Wollen wir schwimmen gehen?«

Am nördlichsten Zipfel der Adria steigen wir ins Wasser, was Magris – so seine Chronisten – sogar jeden Tag tun würde, ein Jungbrunnen, der Körper und Geist belebt . Ab und zu deutet er an diesem Nachmittag zwischen den Schwimmphasen auf ein Haus, einen Hügel oder auf den Hafen und erzählt eine dazu passende Geschichte, wie auch die über die Leiche eines Bootflüchtlings aus Afrika, die eines Tages angeschwemmt wurde. Dabei schaut er auf die Uferpromenade seiner Heimatstadt, als würde er überlegen, ob Menschen, die es tatsächlich und lebend bis hierher schaffen würden, von Triest genauso herzlich begrüßt werden wie jemand, der wie ich – »Prost mein Engel« – vom Norden kommt. Ihm, so ist es ihm anzusehen, wäre das wichtig.

Es ist leicht und auch angebracht, die Unmenschlichkeit derjenigen zu kritisieren, wel­che die Einwanderer zurückweisen. Aber es könnte der Moment kommen, in dem die Anzahl unserer Mitmenschen auf der Welt, die mit Recht ihren unerträglichen Lebensumständen entfliehen wollen, derart zunimmt, dass sie buchstäblich keinen Platz mehr finden und damit untragbare Konflikte auslösen, in unvorherseh­baren Formen, die ebenfalls ganz anders sind als das, was wir traditionsgemäß Krieg nennen.

(Aus der Friedenspreisrede von Claudio Magris)

Lieber Claudio, alles Gute zu Deinem besonderen Geburtstag, den Du hoffentlich in Triest und zumindest für eine Weile in Deinem Lieblingscafé verbringen wirst.

Deshalb beschließe ich den Text mit den Worten, mit denen Du damals Deine Dankesrede beendet hast: Vi ringrazio e vi abbraccio!