IG BellSa: Grußwort von Karin Schmidt-Friderichs

"Wir brauchen strukturelle Förderung, auf die wir uns verlassen können!"

31. Mai 2022
Redaktion Börsenblatt

Welche Weichen jetzt für die Zukunft der Branche gestellt werden müssen, hat Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs heute in einem engagierten Grußwort zum Auftakt der Jahrestagung der IG Belletristik und Sachbuch in Berlin dargelegt. Lesen Sie ihre Grundsatzrede hier im Wortlaut:

"Vielfalt erhalten – Vielfalt gestalten"

Liebe buchbegeisterte Kolleg*innen,

vor zwei Jahren und vier Monaten hielt ich meine erste größere öffentliche Rede als Vorsteherin. Ich hielt sie in München. Ich hielt sie vor Ihnen. Und ich fragte mich und Sie, was wäre, wenn wir alle jeden Jahreswechsel vor der Herausforderung stünden, zu entscheiden, ob wir uns auf die Stelle, die wir innehaben wieder neu bewerben würden.

Keine zwei Monate später kam Corona.

Und als am 13.3.2020 der erste Lockdown verkündet wurde – Ladenschließungen und Homeoffice über uns herein brachen –, da war ich mir ziemlich sicher, dass sich die Frage nach den Neubewerbungen vielen von uns stellen würde. Nur nicht auf die eigene Stelle, weil es diese vielleicht nach Corona gar nicht mehr gäbe.

Allen Sorgen zum Trotz ist die Buchbranche recht gut durch die Pandemie gekommen. Mancher hat das Lesen neu, andere haben es wiederentdeckt. Die Digitalisierung der Branche war schon weiter fortgeschritten als wir – die wir zu kritischer Selbstreflexion neigen – es uns eingestanden haben.

Hurra, wir leben noch. Und ein noch größeres Hurra: wir sehen einander wieder!

Aber: die Herausforderungen, vor denen wir stehen sind mit dem politisch ausgerufenen Ende von Corona nicht kleiner geworden – und mir stellt sich eine neue Frage:

Wenn der Börsenverein in etwas weniger als drei Jahren seinen 200sten Geburtstag feiert, was feiern wir da?

Feiern wir die Vergangenheit oder die Zukunft?

Und welche Weichen müssen wir stellen, damit es

a) 2025 überhaupt etwas zu feiern gibt und wir uns
b) nicht auf 200 Jahren stolz und glücklich ausruhen, sondern energievoll und optimistisch die Zukunft der Branche gestalten?

Auf der Website des Börsenvereins steht:

Der am 30. April 1825 gegründete Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig war zunächst eine reine Rationalisierungseinrichtung zur Weiterführung der Börse, entwickelte sich jedoch schon bald zur Vertretung der Interessen des gesamten Berufsstands. Dazu gehörten der Kampf gegen die staatliche Zensur und den Nachdruck, das Eintreten für eine die Landesgrenzen überschreitende Urheberrechtsgesetzgebung sowie der Einsatz für feste Buchpreise.

"Vertretung der Interessen des gesamten Berufsstands": Das heißt damals wie heute: vielfältige Interessen und Sichtweisen, Herausforderungen und Probleme unter einen Hut zu bringen.

Der Kampf gegen die Zensur schien gewonnen, aber gerade erleben wir, wie die Pressefreiheit in Ländern Europas nicht mehr selbstverständlich ist. Und eine Woche der Meinungsfreiheit nötig wird, weil das, was selbstverständlich scheint es eben nicht ist.

"Kampf gegen den (illegalen) Nachdruck": Da könnten wir heute mit wenig Mühe umformulieren: der Kampf gegen Online-Piraterie oder gegen die Bedrohung des E-Book-Marktes durch eine Ausweitung des E-Lendings in öffentlichen Bibliotheken

Es geht dann 1825 weiter mit dem Eintreten fürs Urheberrecht und dem Einsatz für feste Buchpreise – Und auch hier steht auf der Agenda knapp 200 Jahre später nichts anderes – nur anders: Die Grenzen, die es zu ziehen und immer wieder zu verhandeln gilt, verlaufen etwas anders. Sie verlaufen innerhalb der Branche.

Wenn wir also die knapp drei Jahre bis zum Jubiläum nutzen wollen, dann gilt es jetzt, die Zukunft des Vereins möglich zu machen – und zu gestalten.

Verein ist, wenn jedes Mitglied weiß, dass wir im Verbund – also mit vereinten Kräften – mehr erreichen als jeder allein.

Karin Schmidt-Friderichs

"Gemeinsam anders" hat unser neuer Hauptgeschäftsführer sich zum Motto für seine Zeit an der Spitze des Verbandes gewählt. Und ich übersetze das für mich so: Verein ist, wenn das "gemeinsam", also das "wir" das "anders", das "ich, ich, ich" also, sticht.

Verein ist, wenn jedes Mitglied weiß, dass wir im Verbund – also mit vereinten Kräften – mehr erreichen als jeder allein.

Die Aufgabe, vor der wir stehen könnten wir zusammenfassen mit Vielfalt erhalten und Vielfalt gestalten.

Was heißt das konkret und wo lauern die Gefahren für diese vielfältige Kulturbranche?

Wirtschaftlichkeit

  • Wenn die Rabatte auf den gebundenen Ladenpreis kein Auskommen mehr ermöglichen…
  • Wenn die Branchenlogistik unter Personalmangel trotz Mindestlöhnen und exorbitanten Spritpreisen ächzt…
  • Wenn Verlage fertig lektorierte und gestaltete Bücher nicht gedruckt bekommen, weil das Papier fehlt oder die Druckkapazität…
  • Wenn Unternehmer*innen in der Branche keine Nachfolger*innen finden, weil der Unternehmer*innen-Lohn diesen Namen nicht verdient…

... dann haben wir ein Problem.

Dieses Problem hat zwei Seiten: Wertschätzung und Wertschöpfung

Und jetzt muss ich Herrn Sprang tief in die Augen schauen, damit ich mich kartellrechtskonform äußere

Aber

  • Wenn ich mit meinem Mann beim Vorort-Italiener Essen gehe und das schnell doppelt so teuer ist wie das Hardcover, das wir einander abends zuhause vorlesen – mehrere Abende lang – dann gibt uns das zu denken…
  • Wenn mir gut situierte Freund*innen empfehlen, das Buch doch, statt es bei der Vorort-Buchhändlerin zu kaufen, als E-Book zur Mitgliedschaftsflatrate in der örtlichen Bibliothek zu leihen, dann war das zumindest vermutlich nicht der politische Wille hinter den Bibliotheks-Etats.
  • Wenn der leistungsstarke Mittelbau in den Unternehmen der Branche plötzlich vollkommen frustriert ist, weil durch die neuen Mindestlohn-Regelungen am unteren Ende des Lohn-Niveaus die Gehälter automatisch um 20% steigen – ohne Leistungssteigerung – kaum ein Unternehmen das aber über alle Hierarchie-Ebenen hinweg durchziehen kann – dann war politisch gut gemeint vielleicht nicht gut gemacht.
  • Wenn für das unternehmerische Eintreten für Nachhaltigkeit und die SDG 17 Ziele plötzlich kaum noch finanzielle und organisatorische Kapazität vorhanden ist, dann kommen wir einer unserer elementaren Aufgaben nicht nach.

Wir müssen uns eingestehen, dass wir das alles vielleicht nicht alleine schaffen. Wir brauchen strukturelle Förderung, auf die wir uns verlassen können!

Neustart Kultur eins und zwei waren wichtige Programme, für die wir den Staatsministerinnen Prof. Monika Grütters und Claudia Roth sehr dankbar sind. Auch Buchhandlungs- und Verlagspreis sind wichtige Auszeichnungen, die die Wertschätzung der Politik für unsere Branche widerspiegeln.

Aber um unternehmerische Entscheidungen treffen zu können braucht es Planungssicherheit.

Wir müssen festlegen, welche Förderung wir fordern

  • ein Modell, wie es in der Schweiz gelebt wird
  • oder ein eigenes deutsches, das mit Modulen die individuelle Verlagsausrichtung und deren zukunftsorientierte (digitale) Entwicklung unterstützt.

Unabhängig davon könnte die Senkung der Mehrwertsteuer für Bücher auf 0% bei vollem Vorsteuerabzug eine gerechte und unkomplizierte indirekte Branchenförderung sein, die allen Beteiligten zugutekäme.

Wofür wir eintreten, das werden wir miteinander beschließen – und dann müssen wir das geschlossen tun!

Wir dürfen die Nachhaltigskeitsziele nicht so lange aufschieben, bis unsere Kund*innen oder unsere Politiker*innen uns vor sich hertreiben.

Wir müssen die Preisbindung miteinander – ja, miteinander – verteidigen.

Es mag kühne Träume geben, in einer preisbindungsfreien Welt kommerziell besser dazustehen – es gibt sogar Stimmen aus der Schweiz, die munter rufen "seht her, es geht", aber wenn man kritisch rückfragt, was nun wäre, wenn auch der große Kanton im Norden keine Preisbindung mehr hätte, dann verstummen auch diese Stimmen schnell.

Die Frankfurter Buchmesse macht die Power und die Vielfalt der Branche sichtbar.

Karin Schmidt-Friderichs

Aber selbst dann, wenn wir diese Hürden alle genommen hätten – wäre alles nichts ohne Aufmerksamkeit.

Wir haben uns dran gewöhnt, dass zweimal im Jahr die Hauptnachrichten von Buchmesse-Eröffnungen berichten. Dass zweimal im Jahr wegen der Literaturbeilagen die Zeitungen kaum noch durch den Briefkastenschlitz passen.

Wir haben uns daran gewöhnt, unsere Geschäfte mit Menschen zu machen – gerne digital – die wir auf oder am Rande von Buchmessen kennengelernt haben.

Bestehende Kontakte kann man im digitalen Raum pflegen, Neue – das hat Corona gezeigt – nicht.

Was fehlen würde gäbe es Frankfurt und Leipzig nicht mehr – oder nicht mehr mit dieser immensen Bedeutung – wenn wir das merkten, dann wäre es bereits zu spät!

Und deshalb kann ich es nicht akzeptieren, wenn Journalist*innen mit dem Finger auf Verlagshäuser zeigen, die aus Schutz ihrer Mitarbeiter*innen die Messepräsenz in Coronazeiten infrage stellen, während ihre eigenen Arbeitgeber, die Zeitungshäuser längst vorher ihre eigene Messebeteiligung abgesagt haben.

Ich kann es aber auch nicht verstehen, wenn clevere Kaufleute nach ausgefallenen oder kleineren Messen meinen, den Rotstift ansetzen zu können, weil sie sich Aufmerksamkeit ohne Invest erträumen.

Die Frankfurter Buchmesse ist der Treffpunkt der Welt des Buches.

Die Messe ist eine Tochtergesellschaft des Börsenvereins und seiner Landesverbände. Es ist also die Messe der Mitglieder. Ihre Messe!

Sie macht die Power und die Vielfalt der Branche sichtbar. Wie durch ein starkes Vergrößerungsglas gibt sie uns allen mehr Bedeutung als wir eigentlich rein wirtschaftlich haben.

Mit diesem Asset sollten wir nicht leichtfertig umgehen!

Wir haben mit Restrukturierungsmaßnahmen und viel Einsatz diese unsere Messe vom Rand der Insolvenz-Klippe wieder ins pulsierende Buchleben geführt: Nun lassen Sie uns Flagge zeigen, Stände buchen und die Vielfalt unserer Programme zeigen!

Ich glaube an den Wert von Vielfalt nicht nur am Tag der Diversität.

Ich glaube an den Wert einer bunten Buchlandschaft als vitalen Beitrag zu Kultur und Bildung, als Beitrag zu einer von Diversität und Toleranz geprägten Gesellschaft.

Und ich glaube, dass es unsere Aufgabe ist, diese Vielfalt zu erhalten.

Deshalb möchte ich es nicht glauben, wenn mir jemand berichtet, der Vertriebsleiter eines großen Verlages habe ihm erzählt, die kleinen Buchhandlungen spielten für ihn einfach keine Rolle mehr.

Deshalb finde ich es fragwürdig, wenn die Politik manchmal meint, Förderungswürdigkeit verhielte sich umgekehrt proportional zum Unternehmensumsatz.

Vielfalt muss man aber auch aushalten.

Vielfalt ist anstrengend – davon weiß KvC nach 150 Tagen auch ein Lied zu singen. Auch ich habe das in zweieinhalb Vorsteherinnenjahren gelernt. Unterm Strich aber ist Vielfalt Reichtum.

Und sie in all ihren Facetten und Dissonanzen zu erhalten und zu moderieren ist mir – wenn Sie das am 21.6. wollen – auch für die nächsten drei Jahre ab Oktober das wichtigste Ziel.

Diversität und Vielfalt sind heute Ihre Themen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag mit vielfältigen Anregungen und wunderbaren Begegnungen!

Danke

Mehr zur IG BellSa und zum Programm der Jahrestagung auf der Website des Börsenvereins.