Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2022

Schmidt-Friderichs: "Europa ist die Vielfalt an Geschichten"

16. März 2022
Redaktion Börsenblatt

In der Leipziger Nikolaikirche ist Karl-Markus Gauß heute Abend (16. März) mit Leipziger Preis zur Europäischen Verständigung 2022 ausgezeichnet worden. Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs hielt die Rede zur Preisverleihung. Lesen Sie sie hier im Wortlaut.

"Liebe Gäste hier in der Nikolaikirche und liebe Zuschauer*innen des Livestreams,

ich freue mich, mit Ihnen gemeinsam Karl-Markus Gauß mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung auszuzeichnen. Einen Autor, der es versteht, uns ein Europa nahe zu bringen, das eben mehr ist als ein politisches Konstrukt, das wir erst mit Leben füllen müssen. Europa ist die Vielfalt an Geschichten, an Begegnungen, an Menschen. Sie machen das Leben in Europa aus. Sie machen es reich.

Ich stehe hier aber auch traurig. Sprachlos. Unsicher. Denn die Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung bildet traditionell den Auftakt zur Leipziger Buchmesse. Und die findet nun zum dritten Mal in Folge nicht statt. Mir werden die Begegnungen fehlen und die Lesefreude, die ganz Leipzig im März durchzieht wie frischer Frühlingswind. Mir werden die Debatten fehlen und das, was die Leipziger Buchmesse ganz besonders auszeichnet:
Sie ist unser Tor zum Osten. Nach Osteuropa, das meine Generation, die hinter dem eisernen Vorhang groß wurde, nur durch derartige Tore entdecken kann.

Literatur bringt uns die Geschichte und die Geschichten der Menschen näher, fremde Gedanken, das Neue. Literatur verhindert, dass wir uns um uns selbst drehen, die eigene Bubble für die Realität halten. Eng werden im Denken. Und im Herzen. Literatur baut Brücken, wo ansonsten Gräben ausgehoben werden. Literatur klärt auf, wo wir gerade erleben, dass sich ein Autokrat und seine Vasallen eine eigene "Wahrheit" erschaffen.

Autor*innen und Journalist*innen geben uns unbequeme Denkanstöße, während Putin seinem Volk Lügen auftischt und Maulkörbe verpasst. Meinungsfreiheit und unabhängige Medien hier in Leipzig zu feiern – das wäre angesichts eines Krieges an der Grenze des politischen Europas in diesem Jahr so wichtig gewesen. Lassen Sie es uns trotz allem so gut wir können tun! Zum Beispiel, indem wir uns hier versammeln.

Wir bekunden unsere Solidarität mit der Ukraine, aber auch mit den mutigen Menschen, die sich in Russland das Denken und die Worte nicht verbieten lassen. Wir ehren einen Autor, der sensibel und detailliert aufzeigt, wie ziseliert Geschichte geschrieben wird. Wir tun das in der Nikolaikirche, von der aus die Bürger*innen der DDR auf die Straße gingen, wenngleich sie wussten, dass in den Fenstern nebenan die Teleobjektive der Stasi auf sie gerichtet waren. Hier in diesem Raum fanden sie den Mut, aufzustehen. Aufzubegehren. Friedlich gegen Gewalt und Unterdrückung anzuarbeiten – bis sie schließlich siegten.

Was könnte an Tag 21 dieses Krieges, der uns die Sprache raubt und den Nachtschlaf, richtiger sein, als Leipzig trotz allem zur Stadt des Buches, des Diskurses, des Lesens, miteinander Redens
und der Meinungsfreiheit werden zu lassen. 1.500 Kilometer von Kiew entfernt und 2.000 von Moskau.

Was könnte passender sein, als sich hier zu versammeln, wo leise Worte zu nachhaltigen Taten wurden, die ein totalitäres Regime sanft aus den Angeln hoben.

Was könnte sinnvoller sein, als hier und heute die Vorfreude auf die Leipziger Buchmesse 2023 zu feiern, denn wir brauchen den Bücherfrühling in Leipzig als ersten Höhepunkt des Bücherjahres.

Was könnte wichtiger sein, als hier für Meinungsfreiheit und Vielfalt einzustehen. Und dazu gehört auch ein "Nein": Wir werden russische Autor*innen nicht boykottieren, sondern all jenen Gehör verschaffen, die Putin lieber wegsperren und mundtot machen würde.

Lassen Sie uns die Menschen in Russland nicht mit den Machthabern in Russland verwechseln. Lassen Sie uns auf dumpfe Provokation aus Putins Lager nicht affekthaft und generalisierend reagieren. Wären die Welt und die Wahrheit nicht so vielschichtig, wäre unsere Branche nicht so facettenreich und vielfältig!

Karl-Markus Gauß beschreibt in seinem Buch "Die unaufhörliche Wanderung" die fatale Wirkung der verharmlosenden Sprache der Politik, die im schlimmsten Fall dazu führt, "dass wir uns die schlechten Dinge schönreden lassen, bis wir uns an sie gewöhnt haben".

Wir alle haben die Rede Putins von 24. Februar im Ohr und die darauffolgenden Wortverdrehungen und Unwahrheiten. Immer mehr Journalist*innen sitzen wegen ihrer Worte in russischen Gefängnissen, Tausende russische Soldaten ließen ihr Leben bei "Militärübungen", die sich als Angriffskrieg herausstellten. Wir stehen nicht nur für die Freiheit des Wortes, sondern auch für den verantwortungsvollen Umgang damit. Wir stehen für Dialektik und Diskurs. Eine Buchmesse in Leipzig fehlt in diesen Tagen umso schmerzlicher.

Darum ist es gut, dass es in den kommenden Tagen trotzdem viele Lesungen, Ausstellungen und Veranstaltungen geben wird. Danke für dieses Engagement! Und es ist umso wichtiger, dass es 2023 wieder eine Buchmesse hier gibt. Die Buchbranche braucht die Leipziger Buchmesse, sie braucht sie als Plattform für die Neuerscheinungen und für die Debatte. Und wir alle brauchen Buchmessen als Orte, an denen Demokratie, Freiheit und der Friedensgedanke hochgehalten werden.

Lassen Sie uns weiterhin das freie Wort nutzen, um für Frieden und Freiheit einzutreten – und unsere Stimme zu erheben gegen Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit. Lassen Sie uns Wladimir Putin gemeinsam auffordern, die Ukraine als Staat anzuerkennen und zu achten. Seine Truppen zurückzuziehen. Und die Medien in Russland frei arbeiten zu lassen.

Die Ukraine hat das Recht auf Frieden! Das sage ich auf Ukrainisch, um den Menschen dort Zuspruch zu geben:

Україна має право на мир!

Und auf Russisch, um den Menschen dort Mut zu machen, sich dem totalitären Regime zu widersetzen, das sie in diesen Krieg schickt:

Украина имеет право на мир!

Vielen Dank!"