Friedenspreisträger Jürgen Habermas wird 95

Mit praktischer Vernunft gegen schießwütige Cowboys, verhärtete Orthodoxien und die Entzauberung der Welt

18. Juni 2024
Martin Schult

Der Terroranschlag am 11. September 2001 sorgte dafür, dass Jürgen Habermas, der heute 95 Jahre alt wird, seine Friedenspreisrede umschreiben musste, sich aber dennoch treu blieb. Ein Glückwunsch von Martin Schult.

Jürgen Habermas

»Noch vor kurzem schieden sich die Geister […] an der Frage, ob und wie weit wir uns einer gentechnischen Selbstinstrumentalisie­rung unterziehen oder gar das Ziel einer Selbstoptimie­rung verfolgen sollen. Über die ersten Schritte auf diesem Wege war zwischen den Wortführern der organisierten Wis­senschaft und der Kirchen ein Kampf der Glaubensmächte entbrannt.« (aus der Dankesrede von Jürgen Habermas)

Das sollte das eigentliche Thema der Rede des Friedenspreisträgers von 2001 – Jürgen Habermas – sein: ein Diskurs über den »Erbstreit zwischen Philosophie und Religion«, um für die oben erwähnte Fragestellung, ob und – wenn ja – wie sehr die gentechnologischen Errungenschaften den Menschen optimieren sollten, eine mögliche Antwort zu finden.

Jan Philipp Reemtsma, der bei Habermas promoviert hat, sollte zuvor in seiner Laudatio die wissenschaftlichen Leistungen und den gesellschaftlichen Einfluss des Preisträgers erläutern und beides an der Begründung des Stiftungsrates messen, der Habermas auszeichnet, weil er »durch seine […] Gesellschaftstheorie die Tradition kritischer Aufklärung fortgeführt und mit einer weit über sein Fach hinausreichenden Wirkung Freiheit und Gerechtigkeit als die Grundlagen in Erinnerung gebracht [hat], an die jede staatliche Macht gebunden ist und die den unaufgebbaren Kern des demokratischen Gemeinwesens ausmachen.«

Ein Festakt für die Philosophie und die Demokratie – das also ist am 14. Oktober 2001 in der Paulskirche für den auf der ganzen Welt bekannten Vertreter der sogenannten Frankfurter Schule geplant, dessen Hauptwerk »Theorie des kommunikativen Handelns« (1982) vielleicht auch für den damaligen Bundespräsidenten Rau und Bundeskanzler Schröder Pflichtlektüre gewesen ist. Zumindest haben beide ihr Kommen angekündigt, um mit den Menschen vor Ort und an den Fernseh- und Radiogeräten den Äußerungen Habermas‘ zu folgen, mit denen er vor einem unkontrollierten Einsatz der neuen Gentechnologie warnen will.

»Man muss nicht an die theologi­schen Prämissen glau­ben, um die Konsequenz zu verstehen, dass eine ganz andere, als kausal vor­gestellte Abhängigkeit ins Spiel käme, wenn die im Schöpfungsbegriff angenommene Differenz verschwände und ein Peer an die Stelle Gottes träte – wenn also ein Mensch nach eigenen Prä­ferenzen in die Zufallskombination von elter­lichen Chromosomensätzen eingreifen würde, ohne dafür einen Konsens mit dem betroffenen Anderen wenigstens kont­rafaktisch unterstellen zu dürfen.« (aus der Dankesrede von Jürgen Habermas)

Mit religiösen Themen beschäftigt sich Jürgen Habermas seit Ende der 1990er Jahre in verstärktem Maße und betrachtet sie im Spiegel der philosophischen Wissenschaftsgeschichte – allen voran mit Immanuel Kants Beiträgen, der »eine scharfe Grenze zwischen dem moralischen Glauben der Vernunftreligion und dem positiven Offenba­rungsglauben [zieht], der zwar zur Seelenbesserung beigetragen habe, aber „mit sei­nen Anhängseln, den Statuten und Observanzen [...] zur Fessel“ geworden sei.«

Kurz vor der Preisverleihung hat der Philosoph mit »Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?« einen Band herausgebracht, in dem er sich mit der Genforschung befasst, die seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms sowohl Ängste schürt als auch Euphorie auslöst. In der Paulskirche will Habermas seine Gedanken dazu weiter ausführen. Doch dann passiert etwas, das die Welt ins Schwanken bringt …

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In der Geschichte des Friedenspreises hat es schon einmal ein Ereignis gegeben, das direkten Einfluss auf die Preisverleihung hatte. 1977 erhielt der polnische Philosoph Leszek Kołakowski den Friedenspreis an einem Tag, an dem nicht nur seit Wochen Hans-Martin Schleyer gefangen gehalten wurde, um die in Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder freizupressen, sondern palästinensische Terroristen die Lufthansa-Maschine »Landshut« entführt hatten, um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen. Während Kołakowski seine Rede hielt, stand die Landshut bei 50 Grad auf einer Landebahn des Flughafens von Dubai. Niemand wusste, wie die Entführung der 91 Geiseln enden würde, doch die Worte des Preisträgers, der seinen vorbereiteten Text über den Hass vortrug, passten zu den schrecklichen Ereignissen, als wären sie eigens dafür geschrieben …

»In einer von Haß, Rachgier und Neid erfüllten Welt, die […] uns enger und enger scheint, ist der Haß eines von jenen Übeln, von denen es plausibel ist zu sagen, daß sie durch keinerlei institutionelle Maßnahmen verdrängt werden können. In diesem Fall, so dürfen wir ohne Lächerlichkeit vermuten, trägt ein jeder von uns, indem er dieses Übel in sich begrenzt, dazu bei, es in der Gesellschaft zu begrenzen, und vollbringt so in sich eine unsichere und brüchige Vorwegnahme eines erträglicheren Lebens auf unserem Narrenschiff.« (Aus der Dankesrede von Leszek Kolakowski)

Als ich 2001 meine Tätigkeit beim Friedenspreis als Assistent von Marlott Linka Fenner antrete, kenne ich natürlich die Debatten um die Preisverleihungen an Annemarie Schimmel und Martin Walser, weiß aber auch noch, dass meine Eltern 1977 vor dem Fernseher saßen, als Kołakowski seine Rede hielt. Bei diesem kulturellen Großereignis jetzt aktiv dabei zu sein, fasziniert mich. Frau Fenner und ich sollen in diesem Jahr sowohl die Verleihung des Friedenspreises als auch die Eröffnungsveranstaltung der Frankfurter Buchmesse organisieren. Über Wochen hängen wir an den Telefonen, verschicken Einladungen, generieren Ab- und Zusagenlisten, bereiten die Drucksachen vor und sind im Kontakt mit Preisträger und Laudator, damit am 9. und am 14. Oktober alles perfekt abläuft.

Am 11. September gegen Mittag erhalte ich einen Anruf meiner Schwiegermutter mit einer Nachricht, die sich noch nicht richtig einordnen lässt: Ein kleines Flugzeug sei in New York in ein Hochhaus geflogen … eine Stunde später offenbart sich das wahre Ausmaß. Der Terroranschlag mit drei Passagierflugzeugen lässt gegen Nachmittag die Twin Towers in New York einstürzen und verwüstet in Washington das Pentagon. Fast 3.000 Menschen kommen durch den islamistischen Terroranschlag ums Leben. Fassungslos schauen wir mit unseren Kolleg*innen auf den Fernsehschirm und wissen: Dieses Attentat wird die Welt verändern. Ob die Eröffnungsveranstaltung der Buchmesse und die Verleihung des Friedenspreises an Jürgen Habermas überhaupt stattfinden kann – das steht in den Sternen.

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In den kommenden Tagen werden die beiden Veranstaltungen von den Beteiligten – Börsenverein, Politik, Polizei, aber auch Preisträger und Laudator – hinterfragt, durchleuchtet, auf den Prüfstand gestellt. Es wird entschieden, bei der Eröffnung verstärkte Sicherheitskontrollen durchzuführen, was letztlich zu mehr als einer Stunde Verzögerung führen wird.

Beim Friedenspreis ist so etwas schwieriger, braucht es doch wegen der Liveübertragung im Fernsehen einen festen Beginn. Reemtsma und Habermas wollen unbedingt, dass die Verleihung stattfindet, letzterer überlegt sogar, seine Dankesrede umzuschreiben. Auch der Bundespräsident und der Bundeskanzler wollen weiterhin kommen, denn – das wird in den nächsten Wochen deutlich – nicht nur sie, sondern große Teile der Bevölkerung erhoffen sich von Jürgen Habermas klärende Worte, wie sich dieses unfassbare Ereignis, bei dem die Grenzen der Menschlichkeit auf vielerlei Hinsicht überschritten wurde, einordnen lässt. Droht ein Krieg der Kulturen oder der Religionen, was wird die Antwort der USA sein, wie will man angesichts dieses Terrors zukünftig zusammenleben?

Ganz entscheidend dabei ist aber, ob Frau Fenner und ich es uns überhaupt zutrauen, all die Aufgaben, die nun an uns gestellt werden, zu erfüllen. Ich staune heute noch darüber, dass wir, als wir gefragt wurden, ob wir für alle Eingeladenen die Hand ins Feuer legen würden, dem zugestimmt haben – freilich erst nachdem wir sämtliche Listen noch einmal durchgegangen sind. Ungewollt erhalte ich dadurch einen Schnellkurs ins Who is Who der deutschen Buchbranche, von dem ich heute noch profitiere.

Kurzum, unsere Zuversicht, begleitet von der großen Umsicht der Polizei, führt tatsächlich dazu, dass wir auf manche zeitraubenden Sicherheitsmaßnahmen verzichten können und für einen pünktlichen Beginn sorgen. Und auch der Friedenspreisträger erfüllt nach der Laudatio und der Verlesung der Urkunde mit seiner Dankesrede alle Erwartungen.

»Wenn uns die bedrückende Aktualität des Tages die Wahl des Themas aus der Hand reißt, ist die Versuchung groß, mit den John Waynes unter uns Intellektuellen um den schnellsten Schuss aus der Hüfte zu wetteifern.« (aus der Dankesrede von Jürgen Habermas)

Gleich mit diesen Anfangsworten sorgt Habermas für eine Grundstimmung in der Paulskirche, die es ihm ermöglicht, danach sowohl emotional, aber auch analytisch über 9/11, vor allem aber über Glaube und Wissen im Allgemeinen zu sprechen. Laut Habermas begründen die Terroristen um Osama Bin Laden den Anschlag mit ihren religiösen Überzeugungen. Für sie würden das Pentagon und die Twin Towers als Wahrzeichen der globalisierten Moderne den Großen Satan verkörpern. Doch auch in der Reaktion des Westens erkennt der Philosoph religiöse Elemente. Die Sprache der Vergeltung, in der nicht nur der amerikanische Präsident reagiert, habe einen alttestamentarischen Klang, Synagogen, Kirchen und Moscheen seien voll. Aber:

»Trotz seiner religiösen Sprache ist der Fundamentalismus ein ausschließlich modernes Phänomen. An den islamischen Tätern fiel sofort die Ungleichzeitigkeit der Motive und der Mittel auf. Darin spiegelt sich eine Ungleichzeitigkeit von Kultur und Gesellschaft in den Heimatländern der Täter, die sich erst infolge einer beschleunigten und radikal entwurzelnden Modernisierung herausgebildet hat.« (aus der Dankesrede von Jürgen Habermas)

Habermas verortet den aus dieser Haltung entstandenen Hass auf alles Moderne in dem Gefühl der Erniedrigung, das auch durch das Fehlen einer gemeinsamen Sprache zwischen den säkularisierten Teilen der Welt und einer verhärteten Orthodoxie angesichts des »Zerfalls traditionaler Lebensformen« ausgelöst wurde. Der Riss der Sprachlosigkeit würde aber auch das eigene Haus entzweien, dem man wohl nur mit einem Commonsense, »der sich im kulturkämpferischen Stimmengewirr gleichsam als dritte Partei zwischen Wissen­schaft und Religion einen eigenen Weg bahnt«, begegnen könne.

»Den Risiken einer andern­orts entgleisenden Säkularisierung werden wir nur mit Augenmaß begegnen, wenn wir uns darüber klar wer­den, was Säkularisierung in unseren postsäkularen Gesell­schaften bedeutet. In dieser Absicht nehme ich das alte Thema „Glauben und Wissen“ wieder auf. Sie dürfen also keine „Sonntagsrede“ erwarten, die polari­siert, die die einen auf­springen und die anderen sitzen bleiben lässt.« (aus der Dankesrede von Jürgen Habermas)

Anders als Leszek Kołakowski im Jahr 1977 nimmt sich Jürgen Habermas des Themas »Terror« zumindest am Anfang seiner Rede an und erfüllt somit die Erwartungen. Im weiteren Verlauf geht er nicht mehr direkt auf den Anschlag ein, doch so manche Aussage, die er trifft, um den »Erbstreit zwischen Religion und Philosophie« im Angesicht der Diskussion um die Gentechnologie zu erörtern, passt wie bei dem polnischen Philosophen zur aktuellen Situation.

»Das religiöse Bewusstsein muss erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Kon­fessionen und anderen Religionen verarbei­ten. Es muss sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftli­che Monopol an Weltwissen innehaben. Schließlich muss es sich auf die Prämissen des Verfassungsstaa­tes einlassen, die sich aus einer profanen Moral begründen. Ohne diesen Refle­xionsschub entfalten die Monotheismen in rück­sichtslos modernisierten Gesellschaften ein de­struktives Potenzial.« (aus der Dankesrede von Jürgen Habermas)

Habermas‘ anschließende Erörterung eines gemeinsam erarbeiteten Commonsense, mit dem Gläubige wie Ungläubige Entscheidungen treffen können, ohne aufeinander loszugehen, ist gleichsam anspruchsvoll wie erhellend. Und somit schafft er etwas, was in der Tat ungewöhnlich ist: Er gibt sowohl denen, die von ihm eine Hilfestellung im Umgang mit dem Terroranschlag erwartet haben, als auch denen, dich sich sie von den hitzigen Debatten über die Gentechnologie irritiert fühlen, einen Text in die Hand, der allein schon durch die Herangehensweise des Urhebers etwas Beruhigendes hat.

Dass die Probleme der Welt nicht mit einer Rede gelöst werden können, dass es keiner Weisheit letzten Schluss gibt, dass um Verständnis gerungen und falsche Wege vermieden werden sollten – das findet sich im letzten Satz der Rede wieder, den Habermas als Frage in Bezug über den Umgang mit der Gentechnologie stellt, der aber in anderen Kontexten ebenfalls seine Berechtigung hat.

»Müsste nicht der erste Mensch, der einen anderen Men­schen nach eigenem Belieben in seinem natürli­chen Sosein festlegt, auch jene glei­chen Frei­heiten zerstören, die unter Ebenbürtigen beste­hen, um deren Verschiedenheit zu sichern?« (aus der Dankesrede von Jürgen Habermas)

Unter dem Titel »Glaube und Wissen« veröffentlicht anschließend nicht nur der Börsenverein, sondern auch Habermas‘ Hausverlag seine Rede, und auch in den folgenden Jahren nimmt der Friedenspreisträger Stellung zu aktuellen Ereignissen, sei es die Corona-Pandemie, der russische Überfall auf die Ukraine 2022 oder das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 mit dem anschließenden Einmarsch der israelischen Armee in den Gaza-Streifen. Dass er in diesen Texten immer den Bezug zur eigenen Gesellschaft sucht, bringt ihm aufgrund der hohen Emotionalität auch immer wieder Kritik ein, stört man sich doch an der scheinbaren Nüchternheit dieser Texte und der angeblich fehlenden Empathie in ihnen.

Doch ist es nicht das, was ein Philosoph tun muss: das Thema in einen weiteren (historischen, philosophischen, sozialen, aber auch humanistischen) Kontext stellen und ihn sowohl an der Gesellschaft als auch an den von ihnen eingesetzten Institutionen spiegeln?

Heute feiert Jürgen Habermas seinen 95. Geburtstag. Möge er sich weiterhin einmischen. Wir brauchen ihn noch. Herzlichen Glückwunsch, lieber Jürgen Habermas!