Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2024: Wolfgang Matz

"Ich bin es gewohnt, sehr dicht am Text zu bleiben"

21. Februar 2024
Nicola Bardola

Er kennt die Literatur als Kritiker, Wissenschaftler, Lektor, Übersetzer, Autor und Herausgeber: Wolfgang Matz, Träger des Alfred-Kerr-Preises für Literaturkritik 2024. Ein Porträt.

Wolfgang Matz

„Wie wär's im Blauen Haus hinter den Kammerspielen?“, schlägt Wolfgang Matz vor, als ich ihn zum Interview einlade. Trotz der gleichzeitig stattfindenden Sicherheitskonferenz im Zentrum Münchens hat er kein Problem, einen Stellplatz zu finden – mit seinem Peugeot-Fahrrad. Schnellen Schrittes durchquert er das Restaurant und bestellt gleich einen Milchkaffee. Der Kellner zögert: „Latte Macchiato oder Cappuccino?“ Da ist sie schon, die Ambivalenz, die Wolfgang Matz immer wieder beschäftigt: „Es kann sein, dass ein Buch eine bewusste Ambivalenz hat, also eine Problematik, die ein anderer Leser anders sehen kann“, erklärt Matz Unterschiede beim Beurteilen literarischer Texte.

Unter den vielen Tätigkeiten, die er in der Literatur ausübt, war Literaturkritik die erste. Seit 1986 schrieb er regelmäßig für die Frankfurter Rundschau. Er hatte Wolfram Schütte einen Artikel über Werner Kraft angeboten, den in Jerusalem lebenden Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Matz schrieb eine lange Würdigung, damals noch auf Schreibmaschine. Schütte brachte fast den ganzen Text als Frontpage für die Frühjahrsliteraturbeilage, eine komplette Seite mit einem kleinen Foto in der Mitte. „So etwas Schönes würde heute kein Mensch mehr machen. Man nennt das jetzt eine Bleiwüste.“

Kurz danach übersiedelte er nach Poitiers in Frankreich, wo er am Institut für deutsche Sprache und Literatur lehrte, zudem als Literaturübersetzer mit seiner späteren Frau Elisabeth Edl tätig war und weiterhin regelmäßig für die Rundschau schrieb. Er blieb bis 1995, wechselte dann zu Hanser nach München, wo er bis 2020 als Lektor arbeitete. „Seither bin ich vollkommen frei.“ Das Hauptgeschäft während der Arbeit an einem neuen Buch zu literarischen Themen sei nun das des Autors. Rezensionen, die vom Format her kleiner sind, kämen dazwischen. „Im Wesentlichen bespreche ich nur Bücher, die ich selber lesen möchte, heute hauptsächlich für die FAZ.“

Wenn jemand ernsthaft 500 Seiten geschrieben hat, dann als Rezensent in einem Schwung zu sagen, das sei alles einfach nur schlecht, das geht nicht.

Wolfgang Matz

Verrisse machen ihm keinen Spaß. Wenn ein Buch im symptomatischen Sinne schlecht sei, also beispielsweise eine Kitsch-Biografie, die in seriösem Zusammenhang erschienen ist über einen bedeutenden Schriftsteller - dann wäre das nichts für ihn. Neulich hat er sich mit etwas Umfangreichem beschäftigt und war wirklich enttäuscht. „Aber wenn jemand ernsthaft 500 Seiten geschrieben hat, dann als Rezensent in einem Schwung zu sagen, das sei alles einfach nur schlecht, das geht nicht.“ Die Besprechung so zu gestalten, dass alle kritischen Punkte zur Sprache kommen, zugleich aber auch das Positive dieser fünfhundert Seiten, sei deutlich schwieriger als durchgängiger Tadel oder Lob. „Ambivalenz zu beschreiben ist deutlich ambivalenter.“

Wenn Kritiker Ironie nicht durchschauen

Wie war das damals auf der anderen Seite des Schreibtischs als Lektor, dessen Autor:innen von Literaturkritiker:innen bewertet wurden? „Beim Lesen einer schlechten Kritik wusste ich sehr wohl zu unterscheiden, ob da Punkte genannt sind, die berechtigt oder zumindest nachvollziehbar sind. Wenn ich aber nicht einverstanden war mit der kritischen Argumentation, habe ich manchmal den Rezensenten geschrieben.“ Einer hatte einmal einen Roman als Kitsch gegeißelt. Als Beispiel zitierte der Kritiker einen wunderbar verliebten Blick mit langen Wimpern und dunklen Augen. „Ich schrieb ihm, er wisse ja wohl, dass dies eine ironische Passage ist und die Augen einem Pferd gehören.“

Dank der Erfahrung als Lektor habe er einiges davon mitbekommen, wie Autoren arbeiten, wie ein Buch gedacht wird und wie es entsteht. Dadurch komme ihm das, was er dann manchmal heute lese, sehr naiv vor. „Als Lektor bin ich es gewohnt, sehr dicht am Text zu bleiben.“ Er wundere sich manchmal, mit welchem Irrwitz Bücher sehr gut besprochen würden. Wenn er dann selber zehn Seiten lese, denke er, dass da schon zu Beginn unmögliche Sätze drinstehen. „Ich bin es eben gewöhnt, unmittelbar Satz für Satz auf einen Text zu reagieren. Wie ein Buch handwerklich geschrieben ist, spielt für mich vielleicht eine größere Rolle als für andere.“

Wolfgang Matz betont, wie sehr Frankreich ihn immer noch beeinflusst. Manche Autoren aus dem Nachbarland haben ihn sein ganzes Leseleben begleitet, beispielsweise Julien Green. Zu dessen Buchvorstellung wurde einst ganz in der Nähe nicht Milchkaffee, sondern Champagner getrunken. Nachdem Green gelesen hatte, was Matz in seinem ins Französische übersetzten Buch über ihn geschrieben hatte, notierte er am 5. April 1998 in seinem Tagebuch: „Welche Intelligenz in den Bemerkungen von Wolfgang Matz. Er erinnert mich an die großen Kritiker von einst, eine Gattung, die in Frankreich im Aussterben begriffen ist, wo man es zu eilig hat, um verstehen zu können.“

Informationen zum Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik finden Sie hier auf boersenblatt.net und auf der Seite der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins.