Auftakt zur Woche der Meinungsfreiheit

"Es kann nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen sein"

4. Mai 2023
Sabine Cronau

Normalerweise vergibt der Börsenverein in der Paulskirche im Herbst den Friedenspreis. Jetzt feierte er hier im Frühling die Freiheit des Wortes, zusammen mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Pianist Igor Levit und Publizist Michel Friedman machten den Abend des 3. Mai zu einer Anschauungsstunde für Streitkultur.

Pianist und Aktivist Igor Levit, die Frankfurter Bürgermeisterin Nargess Eskandari-Grünberg, Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs,  Innenministerin Nancy Faeser und Publizist Michel Friedman (von links) vor dem Paulskirchen-Gemälde von Johannes Grützke

Selbstverpflichtung zum aktiven Bürgertum

Datum und Schauplatz waren natürlich bewusst gewählt: Die Frankfurter Paulskirche gilt als Wiege der deutschen Demokratie, vor 175 Jahren tagte hier zum ersten Mal die Nationalversammlung.

„Welcher Ort wäre passender?“, fragte denn auch Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs in ihrem Grußwort – und appellierte an das Publikum, Meinungsfreiheit auch als „Selbstverpflichtung zum aktiven Bürgertum“ zu verstehen, nicht weniger als vor 175 Jahren.

Demokratie, so die Mainzer Verlegerin, lebe vom offenen Diskurs, nicht von vorgestanzten Meinungsparolen. Das aber gehe nur durch Meinungsbildung. Ein Schlüssel dazu sei die Literatur.

Karin Schmidt-Friderichs

Welcher Ort wäre passender als die Paulskirche?

Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins

Deutschland rutscht im Ranking der Pressefreiheit ab

Zugleich wird am 3. Mai der Internationale Tag der Pressefreiheit gefeiert – und bei diesem Thema gibt es keine guten Nachrichten aus Deutschland. In der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit, die „Reporter ohne Grenzen“ gerade veröffentlicht hat, ist die Bundesrepublik von Rang 16 auf Rang 21 abgerutscht – und damit aus den Top 20 herausgefallen.

Insgesamt 103 Angriffe auf Journalisten wurden im Jahr 2022 dokumentiert (Vorjahr: 80). 87 davon hatten laut "Reporter ohne Grenzen" einen verschwörungsideologischen, antisemitischen und extrem rechten Hintergrund, viele fanden im Rahmen von (Corona-)Demonstrationen statt, die ja geradezu der Inbegriff von Meinungsfreiheit sind: „Das sollte uns nachdenklich stimmen – und dagegen muss die Politik, dagegen müssen aber auch wir als Gesellschaft antreten,“ so der Appell der Vorsteherin.

Igor Levit

Mein Alltag sieht anders aus. Es gibt sehr wohl Platz für Antisemitismus und jede andere Form von Menschenhass – und zwar ziemlich viel, online wie auf der Straße.

Igor Levit, Pianist und Aktivist

Kein Platz für Antisemitismus und Rassimus?

„Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass eine Meinung außer Kritik steht“, stellte auch Frankfurts Bürgermeisterin Nargess Eskandari-Grünberg klar. Sie rief zum lauten Widerspruch auf – vor allem dann, wenn die grundgesetzlich verankerte Würde eines Menschen angetastet werde: „Seien wir auch heute Abend laut: In dieser Stadt ist kein Platz für Antisemitismus und Rassismus, für Antiziganismus und Islamophobie“.

Aber ist das wirklich so? Nachdem die Podiumsrunde mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser, Nargess Eskandari-Grünberg und Publizist Michel Friedman schon eine Weile über Meinungsfreiheit debattiert hatte (Moderation: Shila Behjat), machte Pianist und Aktivist Igor Levit als vierter Debattengast deutlich, dass zwar oft gesagt werde, es gebe in Deutschland keinen Platz für Antisemitismus, aber: „Mein Alltag sieht anders aus. Es gibt sehr wohl Platz für Antisemitismus und jede andere Form von Menschenhass – und zwar ziemlich viel, online wie auf der Straße.“

Podiumsrunde in der Paulskirche

Podiumsrunde in der Paulskirche

„Ist ein Anschlag auf eine Moschee, eine Synagoge etwa kein Anschlag auf Dich?“

Michel Friedman, Publizist

Sprache kann tödlich sein

Er legte damit den Finger in die Wunde – und machte die Lücke deutlich, die zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft, in Frankfurt wie anderswo. Michel Friedman nahm den Faden auf und verwies darauf, dass er nach Anschlägen wie in Hanau oder Halle oft einen Satz höre, den er nicht verstehen könne: „Wir sind an Ihrer Seite“. Welche Botschaft werde denn damit vermittelt? „Ist ein Anschlag auf eine Moschee, eine Synagoge etwa kein Anschlag auf Dich?“

Auch der Satz „Wehret den Anfängen“ falle in diesem Zusammenhang gern. Dabei sei man schon mittendrin, weil man eine hasserfüllte Sprache zugelassen und nicht vehement widersprochen habe. Sprache könne tödlich sein, Hassrede sei kein Kavaliersdelikt, machte Friedman deutlich.

Deshalb stellt sich für ihn die Frage: Ist Hass wirklich eine Meinung – oder verbale Gewalt? „Es gibt viele, die durch diese Form der Gewalt sehr eingeschränkt leben müssen, weil sie bedroht werden. Entweder streiten wir uns und halten dagegen – oder wir sind mitverantwortlich.“

Zugrunde gehen wird die Demokratie für Michel Friedman jedenfalls nicht zuerst an denen, die laut hetzen, sondern an denen, „die gelangweilt sind und / oder sich nicht einmischen.“

Bundesinnenministerin Nancy Faeser

Neben der Politik brauchen wir auch die Zivilcourage jedes einzelnen, nicht wegzuhören, wenn jemand diskriminiert wird.

Nancy Faeser, Bundesinnenministerin

Ist Zivilcourage wirklich nötig - oder vor allem Empathie?

Nancy Faeser, die auch selbst schon Drohbriefe bekommen hat, erinnerte in diesem Zusammenhang an den 2019 ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke: „Er ist gegen Rassismus und rechte Hetze aufgestanden. Neben der Politik brauchen wir auch die Zivilcourage jedes einzelnen, nicht wegzuhören, wenn jemand diskriminiert wird.“

Mut, entgegnete Michel Friedman, sei dafür hierzulande allerdings gar nicht nötig. Nur Empathie mit den Betroffenen sowie die Einsicht, dass Gegenrede und eine offene Streitkultur im politischen, privaten und digitalen Umfeld der einzige Weg ist, um die Demokratie vor Hass und Extremismus zu schützen: „Es kann eben nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen sein.“

Noch ein weiterer Satz von Friedman könnte als Fazit über dem Abend stehen: "Wir müssen wieder mehr streiten – Streit ist der Sauerstoff des demokratischen und menschlichen Weiterkommens. Und Meinungsfreiheit heißt eben auch, es auszuhalten, dass jemand die Welt anders sieht als man selbst.“

So geht die Woche der Meinungsfreiheit weiter

Highlights aus dem Programm (vollständig abrufbar hier):

  • Instagram-Takeover bis zum 5. Mai: Serhij Zhadan, ukrainischer Schriftsteller, Musiker und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, übernimmt noch bis zum 5. Mai den Instagram Account der Frankfurter Buchmesse @buchmesse.
  • 7. Mai, 13 Uhr, Matinée: „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“. Lesung und Gespräch zum 90. Gedenktag der Bücherverbrennung im Maxim Gorki Theater, Berlin, mit: Aslı Erdoğan, Aysima Ergün, Doğa Gürer, Herta Müller, Moritz Rinke, Felicitas Hoppe, Maria Stepanova, Jan Wagner, Peter Kraus vom Cleff, Moderation: Bascha Mika. Zum Karten-Vorverkauf

  • Wanderausstellung „Verbrannte Orte – Die Bücherverbrennungen von 1933“. Eröffnung in der Woche der Meinungsfreiheit am 1. Mai in Kiel, am 8.Mai in Freiburg und in Berlin-Spandau, am 9. Mai in Frankfurt / Deutsche Nationalbibliothek sowie am 10. Mai in Potsdam, Erfurt und in Hamburg. Mehr zum Projekt hier.

  • 10. Mai, 19.30 Uhr: Sie emigrierten nicht, fliehen mussten sie. Sanary sur Mer: Wie konnte ein Fischerort in der Provence ab 1933 zur „Hauptstadt des künstlerischen und literarischen Exils“ werden? Veranstaltung in der Nicolaischen Buchhandlung, Berlin.

  • 10. Mai, 19.30 Uhr: Das Gedächtnis einer Nation – Ukrainische Literatur im Gespräch”. Mit Übersetzerin Claudia Dathe und Andreas Rostek von der edition.fotoTAPETA. Veranstaltung der Buchhandlung Schmetz am Dom, Aachen.

Über die Woche der Meinungsfreiheit

  • Vom 3. bis 10. Mai rückt die Woche der Meinungsfreiheit die Bedeutung der Meinungsfreiheit und lebendiger Debatten für eine freie, demokratische Gesellschaft in den öffentlichen Fokus.
  • Ein breites gesellschaftliches Bündnis, initiert vom Börsenverein, organisiert unter dem Claim #MehrAlsMeineMeinung bundesweit über 60 Veranstaltungen, Aktionen und Kampagnen.
  • Rund 60 Organisationen und Unternehmen unterstützen die Aktion, darunter Amnesty International, das PEN-Zentrum Deutschland, Reporter ohne Grenzen, Eintracht Frankfurt.
  • Viele Buchhandlungen, Verlage, Presseverkaufsstellen und Medien beteiligen sich bundesweit an der Woche der Meinungsfreiheit.