Digitaler Wandel, nachhaltig gedacht
Wie nachhaltig kann die Buchbranche den digitalen Wandel gestalten? Über Herausforderungen in Zeiten knapper Ressourcen. Eindrücke und Gedanken von der Jahrestagung der IG Digital und der IG Nachhaltigkeit.
Wie nachhaltig kann die Buchbranche den digitalen Wandel gestalten? Über Herausforderungen in Zeiten knapper Ressourcen. Eindrücke und Gedanken von der Jahrestagung der IG Digital und der IG Nachhaltigkeit.
Das ist eine Zahl, die einem zu denken gibt: Das Training eines künstlichen neuronalen Netzwerks mit Hunderttausenden von Datensätzen verbraucht so viel CO2 wie fünf Autos während ihrer gesamten Lebenszeit. So gesagt von Dennis Horn, Digitalexperte in der ARD und Keynote-Sprecher der gemeinsamen Tagung von IG Digital und IG Nachhaltigkeit im Börsenverein, die heute in Frankfurt am Main begonnen hat.
Machine Learning, so der gängige englische Begriff, ist also ein Prozess, der nicht gerade klimafreundlich ist und in hohem Maße Ressourcen frisst. Mit Zahlen sollte man vorsichtig operieren, aber laut dem französischen Think Thank "The Shift" sollen Digitaltechnologien heute für 3,7 Prozent der weltweiten Treibhausgas-Emissionen verantwortlich sein (diese Zahl wurde auf der Tagung nicht zitiert).
Wie steht es also um die Nachhaltigkeit digitaler Technologien (und der digitalen Transformation insgesamt)? Welche Einspareffekte erzielen sie auf der anderen Seite, wenn es darum geht, durch intelligent gesteuerte, automatisierte Prozesse den Energie- und Ressourcenverbrauch zu senken? Wie fällt am Ende die Bilanz aus?
Das ist eine Frage, deren Beantwortung auch die heute gängigen KI-Systeme inklusive ChatGPT überfordern dürfte: allein schon deshalb, weil die Datenbasis, auf deren Grundlage eine solche Abwägung zu treffen wäre, noch viel zu dünn und löcherig ist. Dennis Horn sorgte in seinem Vortrag dafür, den allgegenwärtigen, medial befeuerten Hype um KI und ChatGPT herunterzudimmen. "KI ist nicht Magie, sondern Statistik", sagte er und erläuterte die Funktionsweise eines künstlichen neuronalen Netzwerks. Man unterscheidet zwischen der Input-Ebene (Datensätze), der Hidden Layer, in der diese verarbeitet werden, und der Output-Ebene, die die Ergebnisse anzeigt. Je länger ein solches Netzwerk mit einer wachsenden Zahl von Daten trainiert, desto besser die Ergebnisse. Aber Vorsicht: Es handelt sich um ein Ergebnis mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Beispiel: Die KI erkennt einen Hund, zum Beispiel einen Dalmatiner, mit einer 98-prozentigen Wahrscheinlichkeit. In jedem 50. Fall könnte also demnach das Ergebnis falsch sein.
Auch die eloquenten, teilweise charmanten Antworten, die ChatGPT auf bestimmte Fragen gibt, sind manchmal nicht mehr als plausibel klingende Unwahrheiten - man spricht dann davon, so Horn, dass die KI "halluziniert". So faszinierend die intelligenten Assistenzsysteme sein können - sie haben ganz klar ihre Grenzen, wie Horn betonte.
Dass IG Digital und IG Nachhaltigkeit ihre erste gemeinsame Jahrestagung veranstalten, ist ein Meilenstein, denn fast drei Jahrzehnte dominierte das Thema Digitalisierung die Branchendiskussion. Dabei sind digitaler und nachhaltiger Fortschritt nicht voneinander zu trennen, wie Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs in ihrem Grußwort betonte. Im Gegenteil: Sie müssen ineinandergreifen wie die Zahnreihen eines Reißverschlusses. Jede digitale Innovation muss sich am Ziel Nachhaltigkeit messen. Hätte das Wort Dialektik nicht inzwischen eine gewisse Patina angesetzt, man müsste es hier einsetzen.
Welche praktischen Auswirkungen das Spannungsverhältnis zwischen Digitalisierung und Nachhaltigkeit in der Buchbranche hat, zeigte die Paneldiskussion zum Thema "Wie drucken wir heute – und morgen? Digitale und nachhaltige Lösungsstrategien". Schon 14 Prozent aller Bücher, so Moderatorin Nadja Kneissler, würden digital gedruckt - Tendenz steigend. Eine Blitzumfrage unter den Tagungsteilnehmern zeigte, dass bereits mehr als 40 Prozent zwischen ein und 49 Prozent ihrer Publikationen digital drucken lassen.
Die Panel-Teilnehmer Florian Enns (Herstellungsleiter Rowohlt), Jörg Paul (COO Libri) und Dominik Haacke (mediaprint solutions) waren sich darin einig, dass Digitaldruck in Zeiten bedarfsgerechter Auflagenplanung inzwischen zunehmend das Mittel der Wahl ist, auch wenn Offsetdruck in vielen Fällen noch seine Berechtigung hat.
Unabhängig von der Wahl des Druckverfahrens ist die Überproduktion mit daraus resultierendem Remissions-Management ein anhaltendes Problem, so die einhellige Einschätzung. KI könnte hier die Mitarbeiter:innen in der Herstellung mit Absatzanalysen unterstützen, so Enns und Paul, und die Reaktionszeit zwischen Bedarfsanforderung und Auslieferung der Bücher deutlich verkürzen. Durch Social Media wie TikTok (BookTok) getrieben, entstünde heute innerhalb weniger Stunden eine Titelnachfrage, die sich im Tausender-Bereich bewegt, so Jörg Paul. Hier müsse man sehr schnell produzieren, denn wenige Tage später könnte der Bedarf schon wieder verschwunden sein. Mit einer Offset-Auflage käme ein Verlag dann deutlich zu spät.
Um Bücher nachhaltiger als bisher produzieren und vertreiben zu können, müssten Verlage KI-Tools einsetzen und Herstellungsprozesse standardisieren. Gleichzeitig sollen Bücher unter Marketing-Gesichtspunkten auffallen, das heißt mit Materialien oder Features ausgestattet werden, die dem Standardisierungsziel zuwiderlaufen (so Enns). Hier wird die Aufgabe also künftig darin bestehen, die konträren Ziele zu gewichten und dann einen gesunden Mittelweg zu finden.
Ohnehin, so Paul, wird man nicht mit einem Schlag Nachhaltigkeit in allen Bereichen herstellen können. "Wir müssen hier in unterschiedlichen Geschwindigkeiten vorangehen." Das heißt aber auch: Man muss "in den Handlungsmodus kommen", wie Börsenvereins-Hauptgeschäftsführer Peter Kraus vom Cleff es formulierte.
Dass digitale Transformation im Zusammenspiel mit nachhaltigen Strategien harte Detailarbeit bedeutet, wird nach und nach sichtbar. Gleichzeitig lohnt es sich, den Blick zu weiten und zu erkennen, welche Auswirkungen diese Prozesse auf die gesamte Gesellschaft haben. Dazu kam zu Beginn der Tagung das digitale Grußwort der Publizistin Marina Weisband, die 2009 der Piratenpartei beitrat, diese aber mittlerweile wieder verlassen hat. Sie plädierte dafür, die Chancen des Internets zu nutzen und warb für eine zweite Aufklärung. Dass jeder im Netz seine Geschichte erzählen und damit viral gehen kann, sei eigentlich ein sehr guter Prozess – ein Prozess, der zu größerer Gerechtigkeit führen könnte, weil er Personengruppen mit einschließt, die bisher nicht bedacht wurden. In dieser zweiten Welle der Aufklärung müssten alle zu "Pädagog:innen werden, ob als Arzt oder als Verleger". So gesehen kann der digitale Wandel auch einen Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit leisten, im Sinne einer besseren, mündigeren und demokratischeren Gesellschaft.
Die Jahrestagung von IG Digital und IG Nachhaltigkeit findet am 15. und 16. Juni in der Evangelischen Akademie in Frankfurt am Main statt. Motto der Tagung ist "Digitale Chancen in Zeiten knapper Ressourcen".