Börsenblatt-Talk mit DBP-Preisträgerin Antje Rávik Strubel

"Die Sprachlosigkeit zur Sprache bringen"

23. Oktober 2021
Michael Roesler-Graichen

Antje Rávik Strubel, die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises, und ihre Verlegerin Siv Bublitz (S. Fischer) sprachen heute im Rahmen des Frankfurt Studio Festival mit Börsenblatt-Redakteur Stefan Hauck über Strubels Roman "Blaue Frau".

"Blaue Frau" ist der Roman über eine junge Frau aus Tschechien, die während eines Praktikums in Deutschland von einem Kulturfunktionär vergewaltigt wird, nach Finnland flieht, und erst allmählich wieder eine Sprache für das findet, was ihr angetan wurde, und was sie sprachlos machte.

Was der Deutsche Buchpreis für sie bedeute, fragte Börsenblatt-Redakteur Stefan Hauck. "Es ist schon ein anderer Preis als die meisten, weil er eine ganz andere Aufmerksamkeit schafft und mit der Buchmesse zusammenhängt", so Strubel. Und die Anspannung im Kaisersaal, als dann ihr Name genannt wurde? "Da darf man nicht aufhören zu atmen", so die Preisträgerin. "Das war sehr unwirklich, und wurde im Laufe des Abends noch unwirklicher."

Auch S. Fischer-Verlegerin Siv Bublitz war zugegen, in einer Situation, in der man nicht mehr viel tun kann, als der Veranstaltung zu folgen und sie zu genießen, in diesem Jahr natürlich besonders. Wie man auf literarische Perlen wie "Blaue Frau" komme, wollte Hauck wissen. Das könne man nicht planen, aber im Lektoratsteam gebe es viel Enthusiasmus, wenn es gelte, neue Stimmen zu suchen. Antje Rávik Strubel hat mit "Blaue Frau" inzwischen ihren vierten Roman bei S. Fischer gemacht, und da spiele auch die Beziehung zwischen Verlag und Autorin eine wichtige Rolle. Angefangen hat es mit Silvia Bovenschen als Lektorin, die Strubel entscheidende Anregungen gab – etwa die, dass die Unsauberkeit einer Formulierung einen unklaren Gedanken im Hintergrund verrate. Der Roman "Blaue Frau" ist Silvia Bovenschen gewidmet.

Zwischen Verlag und Autor*in besteht nicht nur ein Vertragsverhältnis, es ist eine Beziehung. Der ganze Verlag - das Lektorat, die Veranstaltungsorganisation für Lesungen - ist da ein Team. Man muss sich anstrengen, das tun die Autor*innen ja auch.

Siv Bublitz

"Wie war es für Sie, die traumatische Erfahrung sexualisierter Gewalt, die die Protagonistin erlebt hat, in Worte zu fassen?", fragte Stefan Hauck. "Es ist ja eine Prosa, die sehr eindringlich und nuanciert ist und unter die Haut geht." Es sei ihr zunächst darum gegangen, die "Sprachlosigkeit zu versprachlichen", so Strubel. In zweiter Linie sei es auch um die Gesellschaft und ihren Umgang mit sexualisierter Gewalt gegangen.

"Hat die Me-Too-Debatte dem Buch zusätzliche Impulse gegeben", wollte Hauck wissen. "Nein, da war ich schon zu lange und zu intensiv mit der Figur beschäftigt, als dass mich dies beeinflusst hätte." Im Übrigen würde sie ihre schriftstellerische Arbeit nicht an tagespolitischen Entwicklungen ausrichten; "dann hätte ich Journalistin werden müssen". Immerhin aber, so Siv Bublitz, könne es eine Rückkopplung des Buchs mit der Me-Too-Debatte geben. Literatur sei eine besondere Form der Erkenntnis, die es sonst nicht gibt – in diesem Roman die Geschichte einer Selbstermächtigung.

Mich reizt einfach alles, was mit Literatur zu tun hat.

Antje Rávik Strubel

Antje Rávik Strubel hat eine unmittelbare Beziehung zu dem Ort, an dem der Roman spielt, zeigte sich im Gespräch. "Ich habe selbst in der Wohnung in Finnland gelebt, in die sich im Roman die Heldin zurückzieht." In Finnland hatte sie Kontakt mit vielen Wissenschaftlern, auch aus dem Baltikum, die eine vom Westen abweichende Sicht auf die Schrecken des 20. Jahrhunderts haben. Dort war es erst 1991 möglich, sich an alles zu erinnern, an Faschismus und Sowjet-Diktatur – etwas, was auch für die aus Tschechien stammende Heldin Alina zutrifft. Da gebe es durchaus "blinde Flecken" im Westen, so Strubel, die selbst in der DDR aufgewachsen ist.

Die Romanerzählung gewinnt durch die Zwiesprache mit der "blauen Frau", die immer wieder erscheint, eine zusätzliche Dimension. Und sie sorge auch für die Schönheit dieser Prosa, so Bublitz. "Das Buch hat eine schöne, klare Dramaturgie und einen großartigen Rhythmus." "Ein Buch, das sehr berührt", so Hauck.

Gegen Ende des Gesprächs wurde Rávik Strubels vielfältige literarische Expertise gestreift: Sie habe lange Zeit Kolumnen geschrieben (für "Emma" beispielsweise), sich durch Rezensionen mit Literatur befasst (Deutschlandfunk) und übersetze gerne aus dem Englischen und Schwedischen ins Deutsche. "Mich reizt einfach alles, was mit Literatur zu tun hat" sagte Rávik Strubel. "Ich übersetze Literatur, für die ich in mir auch ein Echo finde". 

Hier die Aufzeichnung des Gesprächs, das im Frankfurt Studio der Buchmesse gestreamt wurde: