Also liegt es vielleicht einfach daran, dass er regelmässig die Bücher bespricht, für die auch Du Dich besonders interessierst? Das ist zwar auch nicht der Punkt, aber es stimmt! Und es kommt der Sache mit dem Vertrauenskritiker schon deutlich näher. Denn die Bücher, die Matz im Lauf der Jahre besprochen hat, sind offenkundig nicht irgendein Zufallssample von Rezensionsexemplaren, die ihm diverse Redakteure halt so zugesandt haben. Nein, Matz hat überwiegend Bücher ausgewählt oder akzeptiert, die ihm viel bedeuten (und, in Klammern, tatsächlich meist auch mir). Seine gesammelten Kritiken bilden nicht weniger als eine Leserbiographie in Bruchstücken. Und dass hier ein Geschmack von bemerkenswertem Zuschnitt und bemerkenswerter Kenntnis, Tiefe und Nuance sich äussert, hätte man schon an Matzens allererster kritischer Publikation merken können: am 11. April 1987 erschien in der Frankfurter Rundschau sein Porträt des Essayisten und Lyrikers Werner Kraft. Kraft ist heute und war damals ein Autor der happy few, ein bald nach Palästina emigrierender Jude aus Braunschweig, Freund von Benjamin und Scholem, Verehrer von Karl Kraus und Rudolf Borchardt.
Als ich dieses Erstlingsstück von Wolfgang Matz dieser Tage las, fragte ich mich mit einem gewissen Grinsen, ob es Matz damals bewusst war, dass in diesem Stück gleichsam ein Manifest seiner künftigen Kritikerarbeit versteckt war. Schon die Namen, die in der Kritik genannt werden, beginnend mit Scholem und Borchardt, sind nichts anderes als ein Teil-Verzeichnis seiner künftiger Kritiken. Dann geht es, immer in diesem Erstling, weiter mit der intensiven Erörterung dessen, was man einst deutsch-jüdischen Geist genannt hat, Scholem hat ihn dementiert, Kraft versucht, ihn zu erhalten, und Matz hat sich seither in zahlreichen Kritiken, über Szondi, über Celan, über Adorno, Benjamin und Scholem immer wieder aufs Feinste mit allen Aspekten dieses weiss Gott verwickelten Themas befasst, enorm bewandert und problembewusst, ohne die so verbreitete Verklemmtheit, die jüdischer Herkunft sagt, wenn sie Jude meint, aber auch ohne jeden falschen Ton.
Aha, ein auf besondere Weise politischer Kritiker, mögen Sie nun denken, und vielleicht beginnen Sie zu ahnen, warum er der Kritiker meines Vertrauens werde konnte. Ja, er ist es auch aus diesem Grund. Wie er Kunderas Mitteleuropa-Idee mit dem Krieg in der Ukraine zusammenliest, ist ausserordentlich. Und wie er Macron in einem fast ganz politischen Stück in der FAZ gegen seine schnellfertigen Verächter verteidigt, nicht minder.
Aber der Kritiker meines Vertrauens ist es noch ein bisschen mehr, weil er zugleich und ausdrücklicher noch ein bekennender nichtpolitischer Kritiker ist. Und auch das steht schon in unserem manifestartigen Erstling und zwar dort, wo es samt Clairon auch hingehört, im ersten Abschnitt. Matz plädiert dort für das „unbedingte Ernstnehmen künstlerischer Produktion“. „Der fortschreitende Verlust der Kriterien des ästhetischen Urteils“, heisst es weiter, „hinterlässt nur noch eines, das belanglose subjektive ‚Gefallen‘, das mehr oder weniger an augenblicklichem Vergnügen“. „Das essayistische Werk von Werner Kraft muss als der Versuch verstanden werden, gegen diese Beliebigkeit an einem inhaltlichen Begriff von Literatur festzuhalten.“
Ja, und das von Wolfgang Matz ebenso. Und dauerhaft. So stünde also fast der ganze Matz schon in nuce in seinem Erstling? Nein, nicht ganz. Es fehlt das für dieses kritische Werk überragend wichtige Frankreich, obwohl doch Paris, wo der gleichfalls fehlende Benjamin Werner Kraft zum letzten Mal getroffen hat, ganz gut in den Erstling gepasst hätte. Einen französischen Akzent trägt dafür Jahre später die wohl schönste Darlegung des Verhältnisses von Politik und Schönheit in Matzens Kritiken. Sie findet sich in einem Artikel, der am 9. April 2021 in der FAZ zum 200. Geburtstag Baudelaires erschienen ist. „Stil als Ausweis künstlerischer Wahrheit“ lautet programmatisch der Titel. Er denkt am Beispiel von Baudelaire und Flaubert, die im gleichen Jahr zur Welt kamen und im gleichen Jahr ihre Hauptwerke veröffentlichten und dafür vor Gericht kamen, über das Verhältnis von Politik und Schönheit nach. Beide hassten ihre Zeit und brachten es zum Ausdruck. Aber beide traten ihr nicht mit politischen Werken entgegen. Sie wurden Klassiker, indem sie, wie Matz formuliert, für ihre Zeit „die angemessene, alle flüchtigen Aktualitäten einfangende, sie dennoch überdauernde Ausdrucksform“ fanden. „Sie wollten alles andere sein als zeitgemäss. Was sie wollten, war eine selbst gegen die Zeitumstände zeitlose Kunst.“
So steht Matz wie wenige fürs Deutsch-Jüdische, fürs Einklagen ästhetischer Masstäbe, für einen weiten, von Green bis Jabès, von Bollack über Kundera bis zu Montaigne und Proust reichenden Blick nach Frankreich – hat ihn all das also zu meinem Kritiker des Vertrauens gemacht? Ehrlich gesagt, - nein.