Alfred-Kerr-Preis: Laudatio auf Wolfgang Matz

Der Kritiker meines Vertrauens

21. März 2024
Redaktion Börsenblatt

Wolfgang Matz' Literaturkritiken sind eine gesammelte Leserbiografie und nicht irgendein Zufallssample, meint sein Laudator Andreas Isenschmid. Was ihn kolossal beeindruckt: die "Art des kritischen Argumentierens in seinen Arbeiten – klar, entschieden, dicht, ohne Styropor und Edelfederspreizen, von Anfang an aufs Herz der Sache aus".  

Andreas Isenschmid

Also, am Anfang stehe die Glücksforschung. Und auch am Anfang steht eine Frage: die nämlich, ob die Glücksforschung wohl je untersucht hat, welches Glück es für einen Leser bedeutet, einen Kritiker des Vertrauens zu haben. Ich weiss, Kritiker des Vertrauens ist eine Wendung, von der meine Kinder sagen würden, die hast du jetzt wieder aus dem Spätmittelalter. In der Tat war es einstmals eine nicht vollends abwegige Frage, ob man es mit Joachim Kaiser oder mit Marcel Reich-Ranicki halte; meine Antwort lautete immer: Reinhart Baumgart; die von Matz vielleicht: Wolfram Schütte. Die Glücksforschung würde wohl antworten, dass die Gruppe derer, die für ihr Glück einen Vertrauenskritiker brauchen, einfach zu klein sei, um über sie statistisch belastbare Aussagen zu treffen. Statt an quantitative müsse man sich an qualitative Forschung halten. Was ich nun also tun will. Meine Forschungen handeln vom aus meiner Sicht einzig denkbaren Kritiker des Vertrauens, also von Wolfgang Matz.

Warum ist Matz mein Vertrauenskritiker? Liegt es etwa bloß daran, mag jemand einwenden, dass er immer die gleichen Werturteile fällt, die Du auch fällen würdest?  Das ist zwar seit 1987, als Matz sein Kritikerdasein begann, noch nicht falsifiziert worden, wie die Glücksforscher sagen. Aber es trifft nicht den Punkt. Im Gegenteil. Mein ohnehin sehr grosses Vergnügen an Matzens kritischer Stimme würde noch einmal steigen, wenn sie einmal frontal gegen meine Neigungen sprechen würde.

Denn die Bücher, die Matz im Lauf der Jahre besprochen hat, sind offenkundig nicht irgendein Zufallssample von Rezensionsexemplaren, die ihm diverse Redakteure halt so zugesandt haben. Nein, Matz hat überwiegend Bücher ausgewählt oder akzeptiert, die ihm viel bedeuten. Seine gesammelten Kritiken bilden nicht weniger als eine Leserbiographie in Bruchstücken. 

Andreas Isenschmid

Also liegt es vielleicht einfach daran, dass er regelmässig die Bücher bespricht, für die auch Du Dich besonders interessierst? Das ist zwar auch nicht der Punkt, aber es stimmt! Und es kommt der Sache mit dem Vertrauenskritiker schon deutlich näher. Denn die Bücher, die Matz im Lauf der Jahre besprochen hat, sind offenkundig nicht irgendein Zufallssample von Rezensionsexemplaren, die ihm diverse Redakteure halt so zugesandt haben. Nein, Matz hat überwiegend Bücher ausgewählt oder akzeptiert, die ihm viel bedeuten (und, in Klammern, tatsächlich meist auch mir). Seine gesammelten Kritiken bilden nicht weniger als eine Leserbiographie in Bruchstücken. Und dass hier ein Geschmack von bemerkenswertem Zuschnitt und bemerkenswerter Kenntnis, Tiefe und Nuance sich äussert, hätte man schon an Matzens allererster kritischer Publikation merken können: am 11. April 1987 erschien in der Frankfurter Rundschau sein Porträt des Essayisten und Lyrikers Werner Kraft. Kraft ist heute und war damals ein Autor der happy few, ein bald nach Palästina emigrierender Jude aus Braunschweig, Freund von Benjamin und Scholem, Verehrer von Karl Kraus und Rudolf Borchardt.

Als ich dieses Erstlingsstück von Wolfgang Matz dieser Tage las, fragte ich mich mit einem gewissen Grinsen, ob es Matz damals bewusst war, dass in diesem Stück gleichsam ein Manifest seiner künftigen Kritikerarbeit versteckt war. Schon die Namen, die in der Kritik genannt werden, beginnend mit Scholem und Borchardt,  sind nichts anderes als ein Teil-Verzeichnis seiner künftiger Kritiken. Dann geht es, immer in diesem Erstling, weiter mit der intensiven Erörterung dessen, was man einst deutsch-jüdischen Geist genannt hat, Scholem hat ihn dementiert, Kraft versucht, ihn zu erhalten, und Matz hat sich seither in zahlreichen Kritiken, über Szondi, über Celan, über Adorno, Benjamin und Scholem immer wieder aufs Feinste mit allen Aspekten dieses weiss Gott verwickelten Themas befasst, enorm bewandert und problembewusst, ohne die so verbreitete Verklemmtheit, die jüdischer Herkunft sagt, wenn sie Jude meint, aber auch ohne jeden falschen Ton.

Aha, ein auf besondere Weise politischer Kritiker, mögen Sie nun denken, und vielleicht beginnen Sie zu ahnen, warum er der Kritiker meines Vertrauens werde konnte. Ja, er ist es auch aus diesem Grund. Wie er Kunderas Mitteleuropa-Idee mit dem Krieg in der Ukraine zusammenliest, ist ausserordentlich. Und wie er Macron in einem fast ganz politischen Stück in der FAZ gegen seine schnellfertigen Verächter verteidigt, nicht minder.

Aber der Kritiker meines Vertrauens ist es noch ein bisschen mehr, weil er zugleich und ausdrücklicher noch ein bekennender nichtpolitischer Kritiker ist. Und auch das steht schon in unserem manifestartigen Erstling und zwar dort, wo es samt Clairon auch hingehört, im ersten Abschnitt. Matz plädiert dort für das „unbedingte Ernstnehmen künstlerischer Produktion“. „Der fortschreitende Verlust der Kriterien des ästhetischen Urteils“, heisst es weiter, „hinterlässt nur noch eines, das belanglose subjektive ‚Gefallen‘, das mehr oder weniger an augenblicklichem Vergnügen“. „Das essayistische Werk von Werner Kraft muss als der Versuch verstanden werden, gegen diese Beliebigkeit an einem inhaltlichen Begriff von Literatur festzuhalten.“

Ja, und das von Wolfgang Matz ebenso. Und dauerhaft. So stünde also fast der ganze Matz schon in nuce in seinem Erstling? Nein, nicht ganz. Es fehlt das für dieses kritische Werk überragend wichtige Frankreich, obwohl doch Paris, wo der gleichfalls fehlende Benjamin Werner Kraft zum letzten Mal getroffen hat, ganz gut in den Erstling gepasst hätte.  Einen französischen Akzent trägt dafür Jahre später die wohl schönste Darlegung des Verhältnisses von Politik und Schönheit in Matzens Kritiken. Sie findet sich in einem Artikel, der am 9. April 2021 in der FAZ zum 200. Geburtstag Baudelaires erschienen ist. „Stil als Ausweis künstlerischer Wahrheit“ lautet programmatisch der Titel. Er denkt am Beispiel von Baudelaire und Flaubert, die im gleichen Jahr zur Welt kamen und im gleichen Jahr ihre Hauptwerke veröffentlichten und dafür vor Gericht kamen, über das Verhältnis von Politik und Schönheit nach. Beide hassten ihre Zeit und brachten es zum Ausdruck. Aber beide traten ihr nicht mit politischen Werken entgegen. Sie wurden Klassiker, indem sie, wie Matz formuliert, für ihre Zeit „die angemessene, alle flüchtigen Aktualitäten einfangende, sie dennoch überdauernde Ausdrucksform“ fanden. „Sie wollten alles andere sein als zeitgemäss. Was sie wollten, war eine selbst gegen die Zeitumstände zeitlose Kunst.“

So steht Matz wie wenige fürs Deutsch-Jüdische, fürs Einklagen ästhetischer Masstäbe, für einen weiten, von Green bis Jabès, von Bollack über Kundera bis zu Montaigne und Proust reichenden Blick nach Frankreich – hat ihn all das also zu meinem Kritiker des Vertrauens gemacht? Ehrlich gesagt, - nein.

Auch wenn er wenig Platz hat, beschreibt er Werke mit enormer philologischer Genauigkeit. Ganzen Epochen kann er mit drei Strichen die richtige Kontur geben. Und in jeder Arbeit steigt er hinab, in das, was sich im Vitalbereich eines Werks wirklich zuträgt.

Andreas Isenschmid

Was Matz dazu gemacht hat, ist Matz. Sein Personalstil, wie man im Spätmittelalter gesagt hätte. Die mich wirklich Mal für Mal kolossal beeindruckende Art des kritischen Argumentierens in seinen Arbeiten – klar, entschieden, dicht, ohne Styropor und Edelfederspreizen, von Anfang an aufs Herz der Sache aus.  Wie sagte der Dichter? „Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an“. Well? Das ist Matz. Auch wenn er wenig Platz hat, beschreibt er Werke mit enormer philologischer Genauigkeit. Ganzen Epochen kann er mit drei Strichen die richtige Kontur geben. Und in jeder Arbeit steigt er hinab, in das, was sich im Vitalbereich eines Werks wirklich zuträgt.  Er tut es als liebender Leser. Er tut es sans mot dire als Literaturwissenschafter, der zwar keinen Lehrstuhl hat, aber mit seinen Buchveröffentlichungen der Quantität und Qualität nach die meisten Lehrstuhlinhaber locker in den Schatten stellt. Er tut es in einer Sprache von seltener, angemessen zeitgeistferner Schönheit. Und er tut es mit unaufgeregter Unabhängigkeit. Er überrascht uns, wenn er die religiöse Naturlyrik Christian Lehnerts mit dem Krieg gegen die Ukraine verbindet. Und er schwimmt gegen den Strom, wenn es sein muss. Aus einer allseits hochgelobten Montaigne-Übersetzung oder Arendt-Biographie lässt er mit zwei Zitaten und zwei seiner stets hochkarätigen Argumente die Luft raus. Dass Lyrikübersetzerinnen nach woken Kriterien gewählt werden, beleidigt seine Übersetzerehre. Doch wer ihn für kulturkonservativ hält, möge seine zustimmende Darstellung des verzweifelten antiweissen Afropessimismus von Frank Wilderson lesen. Vorurteile sind nicht die Stärke dieses offenen Geistes.

Welches ist Matzens statistisch auffälligstes Satzzeichen?  Es ist nicht der Punkt der abschliessenden Feststellung. Schon gar nicht das Ausrufezeichen des triumphierenden Verrisses. Semikola übergehen wir. Sein Liebling ist das so oft wiederkehrende Fragezeichen, mit dem Matz seinen eigenen Gedanken immer wieder ins Wort fällt und sie zum Neuanfang nötigt.

Andreas Isenschmid

Genug der großen Worte. Warum Matz der Kritiker meines Vertrauens wurde, lässt sich auch mit kleinsten sagen. Und das Kleinste sind in einer Kritik bekanntlich die Satzzeichen. Also beschließe ich meine qualitative Glücksforschung in Sachen Vertrauenskritiker mit etwas quantitativer Interpunktionsstatistik. Welches ist Matzens statistisch auffälligstes Satzzeichen?  Es ist nicht der Punkt der abschließenden Feststellung. Schon gar nicht das Ausrufezeichen des triumphierenden Verrisses. Semikola übergehen wir. Sein Liebling ist das so oft wiederkehrende Fragezeichen, mit dem Matz seinen eigenen Gedanken immer wieder ins Wort fällt und sie zum Neuanfang nötigt. Ist das skeptischer, aufklärerischer Dialog mit sich selber? Gewiss. Aber Matz kennt natürlich auch Scholems zwei schöne Sätze: „Im allertiefsten Grunde gibt es im Judentum den Begriff der Antwort nicht.“ Und: „Im Talmud gibt es nur die Frage, die keine Antwort kennt. Die Antwort ist der Zauber, der verboten ist.“

„Ich gratuliere der Stiftung Buchkultur und Leseförderung und dem Börsenblatt zu diesem Preisträger des Alfred-Kerr-Preises!“