Es trafen aufeinander: Jürgen Horbach (Athesia Verlag, Sprecher der IG Meinungsfreiheit), Margit Ketterle (Verlagsleiterin Droemer Knaur), der Schriftsteller Matthias Politycki und als Vertreter*innen des Branchennachwuchses Svenja Schaller (Taskforce-Sprecherin Nachwuchs-AG, Büchergilde Gutenberg), Alisa Biebersdorf und Tobias Rodewies (beide Auszubildende bei Thalia).
Ist "Cancel Culture" ein Kampfbegriff? Man hatte den Eindruck, dass die Antwort darauf vom Alter des Antwortenden abhängt, und von der Position, die man in der Diskussion einnimmt. Matthias Politycki hatte im Juli in der „FAZ“ einen Artikel veröffentlicht, in dem er den Verfall der Debattenkultur in Deutschland beklagte und begründete, weshalb er nach Wien umgezogen sei: Ihm habe die "schriftstellerische Luft zum Atmen" gefehlt. Was er in Deutschland gerade erlebe, sei nicht mehr die alte Streitkultur. Statt um Begriffe zu streiten, würden Frames gesetzt; es werde nur noch selten ausdiskutiert; er kenne Intellektuelle, die sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hätten. "Ich komme aus der klassischen Linken und war schon grün, bevor die Partei gegründet wurde", sagte Politycki. "Ich habe mich immer den Zielen der Aufklärung verpflichtet. Dazu gehört, dass man sich selbstverständlich gegen die Bedrohung von rechts wehrt." Unwohlsein löst bei ihm allerdings aus, dass man sich zunehmend auch gegen die Vereinnahmung und Ideologisierung von links wehren müsse. "Ich bin von woken Freunden umzingelt, von denen jeder eine Haltungskette verkörpert. Als Linker bin ich besorgt, dass die Aufklärung in Gegenaufklärung kippt." Daraus resultiere ein Problem für die Meinungsfreiheit.
Eingangs hatte Jürgen Horbach unterstrichen, dass die Meinungsfreiheit gewahrt bleiben müsse. Es müsse Raum für Diskurse und widerstreitende Meinungen geben. Der Vorwurf, dass bestimmte Meinungen nicht geäußert werden dürften, und Zensur stattfinde, sei abwegig. Der Staat sei in Deutschland nicht übergriffig. Es gebe aber eine horizontale Bedrohung: "Bestimmte Gruppen werfen anderen Unterdrückung vor und sprechen in diesem Zusammenhang von 'Zensur'". Ursache dafür sei, wie es der Soziologe Armin Nassehi formuliere, ein fehlender Konsensdruck in der Gesellschaft. Jeder sage, was er wolle, und es gebe nichts, was als moralische Leitplanke fungieren könnte.
"Wir sollten nicht damit anfangen, Opferkonkurrenzen aufzubauen"
Politycki nannte es bedenklich, wenn Texte von Autorinnen und Autoren ohne deren Einverständnis gegendert würden – ein Eingriff, den auch Margit Ketterle, ebenfalls Mitglied der IG Meinungsfreiheit, zurückweisen würde. Ob deshalb die Kunstfreiheit bedroht sei? Nein, die Frage sei vielmehr, wie sehr man sich für die Meinungsfreiheit einsetze. "Dabei geht es ums Differenzieren, nicht ums Canceln", so Ketterle. "Wir sollten nicht damit anfangen, Opferkonkurrenzen aufzubauen und uns zu viktimisieren. Stattdessen sollten wir einen neuen Umgang miteinander finden."
Was das Gendern in Büchern betrifft, richte man sich nach den Autorinnen und Autoren. Früher erschienene Werke werde man aber nicht nachträglich gendern. "Wir werden nicht die Gegenwart in die Vergangenheit verlängern und zu einer Spaltung der Generationen beitragen", so Ketterle.
Svenja Schaller, Tobias Rodewies und Alisa Biebersdorf sehen die Sache anders. Sprache sei nie neutral, so Schaller, und das generische Maskulinum stehe für männliche Vorherrschaft. "Frauen werden nicht mitgedacht, dies belegen auch Studien". Dass die Diskussion um Sprache polemische Züge trage und polarisiere, sorge für mehr Wahrnehmung, so Rodewies. "Ich finde es fantastisch, Sprache kritisch zu betrachten, das ist auch Sache der Aufklärung". Psycholinguisten, so Biebersdorf, hätten nachgewiesen, dass Sprache die Gesellschaft formt. Deshalb würden Männer dominieren.
Nicht nur in der Sprachdebatte, sondern auch in der Identitätspolitik sieht Matthias Politycki "bedrohliche Anzeichen, gegen die es einzuschreiten gilt". Das zeige auch die Debatte um die Übersetzung des Inaugurationsgedichts von Amanda Gorman, die Jürgen Horbach ins Spiel brachte. Eine gute Übersetzung, so Politycki, sei unabhängig von Geschlecht und Hautfarbe.
Auf entschiedenen Widerspruch stieß der Schriftsteller allerdings mit der Bemerkung, dass man auch als Weißer rassistische Erfahrungen machen könne. Das sei doch eine krasse Unverschämtheit, meinte Svenja Schaller. Ihr Rat an den Älteren: "Lesen Sie ein Buch über Rassismus, es muss auch nicht gegendert sein!"
Und der Begriff der "Cancel Culture"? Für Tobias Rodewies nicht hilfreich, weil er sowohl „Schreihälse auf Twitter“ meine wie „berechtigte Kritik“. Svenja Schaller lehnt den Begriff rundweg ab.
Nicht von der Hand zu weisen sei aber, so Horbach, dass missliebige Meinungen nicht nur zum Ausschluss aus Debatten führten, sondern dass diejenigen, die sie äußern, auch mit Sanktionen belegt würden. Dies sei Ausfluss einer moralisierenden, belehrenden Haltung.
Die Diskussion auf dem mediacampus offenbarte die gesteigerte Empfindlichkeit der jüngeren Generation, die Sprache nicht als neutrales, sondern als patriarchalisch, rassistisch oder kolonial vorbelastetes Medium zu betrachten. Auf der anderen Seite zeigten die älteren Teilnehmer*innen der Runde eine Empfindlichkeit gegen jeden (moralisch begründeten) Eingriff in die Struktur und Ästhetik der Sprache. In der Konsequenz bedeutet dies nichts anderes, als dass hier mit dem Generationenwechsel eine Diskursverschiebung stattfindet: Emanzipatorische Impulse wirken nicht mehr nur auf der (politischen) Handlungsebene, sondern auch auf dem Feld der Sprache.