Auf der Suche nach dem Anderen
Friedenspreisträger Orhan Pamuk wird an diesem Dienstag (7. Juni) 70 Jahre alt. Martin Schult gratuliert einem Schriftsteller, der sich schreibend und fotografierend in andere Menschen und Welten hineinversetzt.
Friedenspreisträger Orhan Pamuk wird an diesem Dienstag (7. Juni) 70 Jahre alt. Martin Schult gratuliert einem Schriftsteller, der sich schreibend und fotografierend in andere Menschen und Welten hineinversetzt.
Nachmittags kam ein Anruf. Die Stimme von Christina Knecht, die immer so besonnene Pressesprecherin des Hanser Verlags, klang etwas aufgeregt. Sie und Orhan Pamuk hätten sich im Kongresszentrum der Frankfurter Messe verirrt, sie fänden nicht mehr zurück, die Eröffnung der Buchmesse 2008 würde gleich beginnen, auf der der türkische Schriftsteller die literarische Rede halten soll. Kurzum: Hilfe!
Eine Viertelstunde später fand ich die beiden in einem großen verglasten Raum, dessen Spiegelung Orhan Pamuk so faszinierte, dass er nicht mehr aufhören konnte, dies mit seiner kleinen digitalen Kamera festzuhalten. Diese Kamera war schon seit einiger Zeit seine ständige Begleiterin, und sie führte dazu, dass er sich immer wieder – ob in Begleitung oder allein – in eine Art zweite Realität verirrte, sei es auf der Buchmesse oder bei einer Veranstaltung in Berlin.
„So eigenwillig das einzigartige Gedächtnis des Autors in die große osmanische Vergangenheit zurückreicht, so unerschrocken greift er die brennende Gegenwart auf, tritt für Menschen- und Minderheitenrechte ein und bezieht immer wieder Stellung zu den politischen Problemen seines Landes.“ Damit begründete der Stiftungsrat seine Entscheidung, ihm nach der Veröffentlichung des Romans „Schnee“ (2004) den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2005 zu verleihen.
In diese Zeit fiel aber auch der Strafprozess gegen ihn, angeklagt wegen "Verunglimpfung des Türkentums", weil er die Ermordung der armenischen Bevölkerung im Ersten Weltkrieg als Genozid bezeichnet hatte. Orhan Pamuk wurde schließlich freigesprochen, während der Vorbereitung zur Verleihung des Friedenspreises 2005 waren die Anklage und der anstehende Prozess jedoch jederzeit gegenwärtig. Auf Anraten seines Anwalts kamen wir überein, dass er deswegen keine politische Rede halten solle. Er entschied sich, über den „Anderen“ in der Literatur zu sprechen:
„Hinter jedem großen Roman steckt meines Erachtens ein Schriftsteller, der sich daran ergötzt, sich als ein anderer darzustellen, und eine Schöpferkraft, die über ihre Grenzen hinauswachsen will. Um sich vorzustellen, dass man eines Tages als ungeheures Ungeziefer erwacht, kreuz und quer über Wände und Plafond kriecht, von den anderen Hausbewohnern verabscheut und vom Vater mit Äpfeln beworfen wird, braucht man nicht so sehr Insektenstudien zu betreiben – man muss vielmehr Kafka sein. Ein wenig Nachforschung ist aber wohl doch nötig, um sich in andere hineinzuversetzen. Und am meisten muss dabei Folgendes bedacht werden: Wer ist eigentlich dieser „Andere“, den wir uns vorstellen sollen?“
Während andere Schriftsteller:innen sich mithilfe von Musik in eine andere Welt versetzen, sind es für Orhan Pamuk seine durchs Objektiv gemachten Beobachtungen.
Martin Schult, beim Börsenverein Referent für den Friedenspreis
Vielleicht ist das die Verbindung zur Digitalkamera. Während andere Schriftsteller:innen sich mithilfe von Musik in eine andere Welt versetzen, sind es für Orhan Pamuk seine durchs Objektiv gemachten Beobachtungen. Die hält er fest und von ihnen trennt er sich wieder, um in die Rolle des „Anderen“ zu schlüpfen, ein „Museum der Unschuld“ zu gründen und Romane zu schreiben. „Die Nächte der Pest“ (2022), eine Geschichte über den Ausbruch der Pest auf der Insel Minger im Jahr 1901 mit einem unbeabsichtigten Bezug zur aktuellen Pandemie, ist sein neuester.
Am 7. Juni feiert Orhan Pamuk, der 2006 den Literaturnobelpreis erhalten hat, seinen 70. Geburtstag. Wir möchten ihm – in der Hoffnung, dass es noch zu vielen weiteren Büchern führt – mit einem weiteren Zitat aus seiner Friedenspreisrede gratulieren:
„Die Geschichte des Romans kann auch als die Geschichte der Möglichkeit geschrieben werden, sich in andere hineinzuversetzen und sich durch dieses Vorstellungsvermögen zu verändern, ja zu befreien.“