70 Jahre Suhrkamp

Ein Glückwunsch in Lieblingsbüchern

30. Juni 2020
Redaktion Börsenblatt

Wir haben uns von den Kolleg*innen der "FAZ"-Sonntagszeitung inspirieren lassen - und gratulieren dem Suhrkamp Verlag zum Geburtstag am 1. Juli mit Büchern, die für das Börsenblatt-Team zu Lebensbegleitern geworden sind. Fünf ganz persönliche Rückblicke auf das Suhrkamp-Programm der vergangenen 70 Jahre.

Torsten Casimir, Börsenblatt-Chefredakteur, über 950 Seiten Erheiterungsarbeit und Peter Sloterdijk

Ein Suhrkamp-Buch hat einst mein Leben verändert. Das war ein Vierteljahrhundert, bevor vom selben Autor ein Essay mit dem Titel "Du mußt dein Leben ändern" erschien. Peter Sloterdijks zweibändige "Kritik der zynischen Vernunft" kam damals (ich steckte im Grundstudium der Kommunikationswissenschaft und hatte mir gerade angewöhnt, mindestens einmal pro Satz "sozusagen" zu sagen, war also im Begriff, durch starke Reduktion sprachlicher Möglichkeiten im System unauffällig zu werden) wie eine Erweckung über mich: wochenlanger Leserausch, Unterstreichungen und Randnotizen auf beinahe jeder Seite. Die Hausarbeit fertigstellen? Für eine Klausur lernen? Später! Prokrastinieren mit Sloterdijk.

Was war geschehen? Der Mann hatte mit Mitte 30 ein Werk vorgelegt, das der Philosophie ein Anti-Apathie-Programm sondergleichen verpasste. Man durfte wieder in Betracht ziehen, dass Wissenschaft wohl doch etwas mit den "Ekstasen des Verstehens" und dem "Aufschwung der Begriffe" zu tun haben könnte. Eine große "Erheiterungsarbeit" versprach der Autor gleich zu Beginn – und lieferte dann über 950 Seiten aufs Vergnüglichste ab.

Lauter lebenswichtige Vorschläge an junge, allzu anpassungswillige Studenten: Versuche, geistreich zu schreiben. Wähle deine Wörter eigensinnig aus. Bemühe dich um erhellende Metaphern. Spare nicht mit Witz. Hab Mut zur fröhlichen Behauptung. Ein kolossales Statement gegen all das Grau der Zweckschriften und akademischen Artigkeiten!

Die zwei Bände von 1983 nehme ich bis heute immer mal zur Hand, wenn mir nach Erheiterungsarbeit ist. Man muss nie lange blättern. Gerade wieder, in Vorbereitung dieses kleinen Textes, blieb ich an einem Abschnitt über das Lächeln der Mächtigen hängen, der "Herrenzyniker" auf moralisch verlorenem Posten: ein Lächeln so schief "wie das Komma zwischen Ja und Aber".

So hat das danach keiner mehr hingekriegt.

Charline Vorherr, Börsenblatt-Onlinerin, über die edition suhrkamp und "Black Lives Matter"

Wenn ich eine Sache mit dem Suhrkamp Verlag verbinde, dann ist es die edition suhrkamp. Teil der 68er bin ich nicht – dafür bin ich einige Generationen zu jung. Aber sie hat mein Studium geprägt: zwei Hausarbeiten, eine mündliche Prüfung über die edition suhrkamp und Willy Fleckhaus. Yeah. (So gut wie) Bachelor of Arts seit letzter Woche.

Fasziniert hat mich die Geschichte der Reihe, die Wirkung auf die 68er-Bewegung von Anfang an. Spannend fand ich die Auseinandersetzung zwischen Siegfried Unseld, Suhrkamp-Autoren und Vertretern der Studentenbewegung auf der Buchmesse. Solche Ereignisse scheint es in der Buchbranche heute kaum noch zu geben. Und ein bisschen habe ich mir auch gewünscht, dass meine Kommilitonen und ich von einer solchen Bewegung und dem Drang nach sozialer Theorie gepackt werden.

Aber wir haben "Fridays for Future" und "Black Lives Matter" – wir stecken mitten drin – und vielleicht fehlt aktuell einfach noch die gehörige Packung Nostalgie, weil die Kämpfe noch nicht ausgetragen sind. Und ganz ehrlich: Ist vielleicht ganz toll, dass die Menschen von denen wir geprägt werden, nicht mehr nur noch alte, weiße Akademiker-Männer sind.

Sabine van Endert, Börsenblatt-Redakteurin, über "imaginierte Weiblichkeit" und ihr Feminismus-Regal

"Die imaginierte Weiblichkeit" von Silvia Bovenschen ist 1979 in der Edition Suhrkamp erschienen, ein Jahr bevor ich in der niedersächsischen Provinz Abitur gemacht habe. Imaginierte Weiblichkeit. Allein der Titel ist ein Knaller. Und erst die Aussage: Wir wissen nichts über Frauen, denn sie sind hinter männlichen Projektionen verborgen. Weibliche Authentizität ist eine Illusion, denn Geschichte wird nicht nur von Männern gemacht, sondern auch erzählt. Deal with it als 19- jährige Abiturientin. "Nur so – im Aufspüren geschlechtsspezifischer Positionen auch innerhalb der Diskurse, in denen sie nicht explizit gemacht sind, einerseits und die der Entfaltung des Zusammenhangs ihrer sporadischen Explikationen andererseits, können die kulturgeschichtlichen Präsentationsformen des Weiblichen aufgedeckt und kann der Reduktionismus...."

Bovenschen ist an Adorno geschult, war also nicht ganz einfach. Aber dann, wenn man es begriffen hatte: Boom! So geht das nicht weiter! Weibliche „Betroffenheitsprosa“, wie damals üblich, hat sie nicht geliefert. Ich habe dann in Städten mit Frauenbuchläden studiert, Feministische Philosophie war eines meiner Prüfungsthemen. Leider besitze ich „Die imaginierte Weiblichkeit“ nicht mehr. Als Kind und Kegel in mein Leben kamen, habe ich das Feminismus-Regal aufgegeben. Von Silvia Bovenschen sollte man übrigens jedes einzelne Buch lesen!

Michael Roesler-Graichen, Börsenblatt-Redakteur, über Wittgenstein und eine "Zweitanschaffung"

Wie für viele andere Vertreter meiner Generation sind Bücher aus dem Suhrkamp Verlag Teil der persönlichen Bio-Bibliographie – oder sollte man eher sagen: Biblio-Biographie? – geworden und aus dieser nicht wegzudenken.

Schon auf dem Gymnasium gehörten Brechts "Galilei" oder "Der Kaukasische Kreidekreis", aber auch Ulrich Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W.", alle aus der edition suhrkamp, zum Repertoire.

Ein ganz besonderes Buch aus der edition, das ich mir ganz privat gekauft hatte, wahrscheinlich kurz vor dem Abitur, war der "Tractatus logico-philosophicus" von Ludwig Wittgenstein (mit der niedrigen Nummer 12) – ein Buch, das schon immer von einem Mythos umweht war, und dessen mathematische Klarheit und messerscharfen Sätze den jungen Verstand herausforderten. Sätze wie "Die Welt ist alles, was der Fall ist" (erster Satz) und "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen" (letzter Satz) haben eine Wucht, die Weltbilder erschüttern kann. Dazwischen sind viele weitere Sätze und logische Operatoren, die ich bis heute wahrscheinlich nie ganz verstanden habe.

Dabei kommt Wittgensteins Buch scheinbar harmlos daher: "Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat. – Es ist also kein Lehrbuch. – Sein Zweck wäre erreicht, wenn es einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitete", sind die einleitenden Sätze des Vorworts.

Das Exemplar, das ich mir als Schüler kaufte, kam irgendwann abhanden. Als Student kaufte ich mir ein zweites Exemplar, in das ich notierte: "Zweitanschaffung".

Sabine Cronau, Börsenblatt-Redakteurin, über Wenders, Handke und eine Bibliothek voller Engel

Der Umschlag, früher weiß, ist heute eher gräulich-beige – und wenn ich das Buch aufschlage, dann riecht es so, wie Bücher eben riechen, wenn sie seit gut 30 Jahren im Regal stehen und oft umgezogen sind: leicht muffig. Trotzdem darf es bei mir bleiben, das Filmbuch zu "Der Himmel über Berlin" von Wim Wenders und Peter Handke, 1987 bei Suhrkamp erschienen. In meiner (trügerischen) Erinnerung ist es bei Schirmer Mosel herausgekommen – was am Genre und an Wim Wenders liegt. Aber natürlich passt es noch viel besser zum verlegerischen Leitsatz von Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld: "Wir verlegen keine Bücher, sondern Autoren". In diesem Fall eben: Peter Handke.

Will und kann ich es nach der Serbien-Kontroverse noch behalten? Diese Frage habe ich mir ab und an gestellt. Die Antwort lautet: Ja, denn es ist weit davor entstanden und ein Stück meiner eigenen Geschichte. Eine Zeitreise zurück in die 80er Jahre und zur Musik von Nick Cave, zurück in die Programmkinos und eine analoge Filmkultur, zurück an die Mauer und ins geteilte Berlin, das in diesem poetischen Gedankenstrom die heimliche Hauptrolle spielt.

Also pure Nostalgie zwischen zwei Buchdeckeln? Nicht nur, denn Wim Wenders und sein "Himmel über Berlin" docken immer wieder an mein Heute an. Etwa bei der Friedenspreisverleihung an Sebastião Salgado im Oktober 2019, bei der Wim Wenders die Laudatio hielt. Und zuletzt im Corona-Lockdown. Wenn ich nach einem Home-Office-Tag durch die rheinhessischen Weinberge lief, musste ich an Peter Falk denken, der im "Himmel über Berlin" mit breitem amerikanischem Akzent eine Vokabel seiner deutschen Großmutter hervorkaut: "Spazieren gehen". Was für ein merkwürdiges Wort.

Wim Wenders lässt seine Film-Engel (zum Niederknien gespielt von Bruno Ganz und Otto Sander) übrigens in der Berliner Staatsbibliothek wohnen. Gibt es eine schönere Idee? Auch in der Suhrkamp-Bibliothek dürften sie sich wohl fühlen...