Stephanie Lange über New Adult und Lesemotive

Heute Romance, morgen feministisches Debattenbuch

17. Oktober 2024
Redaktion Börsenblatt

New Adult ist ein großes Thema auf der Buchmesse – nicht zuletzt durch die neue, eigene Halle für das Segment. Die Arbeit mit den Lesemotiven kann dabei helfen, die Bedürfnisse der Zielgruppe noch besser zu verstehen. Eine Analyse von Vertriebsexpertin Stephanie Lange.

Stephanie Lange

Die Branche weiß: Den New-Adult-Trend gilt es zu nutzen

Stephanie Lange, Vertriebsexpertin und bei MVB Botschafterin für die Lesemotive

„Teenager retten den Buchmarkt“: So titelte die „Süddeutsche Zeitung“ am 4. Juli 2024. Das New-Adult-Segment gilt in der Branche derzeit als Heilsbringer - da sind sich Handel und Verlage ausnahmsweise einig.

Die Frankfurter Buchmesse widmet dem Thema New Adult in diesem Jahr sogar eine ganze Halle mit eigener Eventbühne. Denn die Branche weiß: Den Trend gilt es zu nutzen. Es geht darum, die Buchbegeisterung der jungen „Digital Natives“ zu erhalten – am besten ihr ganzes weiteres Leben lang.

Dabei hilft, dass viele Teenager bereits frühzeitig ins „Erwachsenenbuch“ wechseln, wie die aktuelle Studie „Bock auf Buch“ belegt, die der Börsenverein gemeinsam mit der avj (Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen) herausgebracht hat (Details zur Studie hier).

In der New-Adult-Halle der Frankfurter Buchmesse 2024

Das Abenteuer, erwachsen zu werden

Verlage und Handel reagieren mit einem breiten Angebot auf den New-Adult-Boom, die Flut der Novitäten ist groß und immer mehr Protagonisten steigen in den umsatzträchtigen Markt ein. Daraus wiederum entsteht die Notwendigkeit der Differenzierung, auch weil die jungen Leserinnen und Leser immer selektiver nach Lektüre suchen.

Spätestens seit der Veröffentlichung der BookTok-Bestsellerlisten steht fest, dass die jungen Leser:innen ein sehr breites inhaltliches Interesse mitbringen. Themen wie Mental Health und Gesundheit, Persönlichkeitsentwicklung sowie Coming-of-Age stehen einträchtig neben Freundschaft, Liebe und Erotik.

Das inhaltliche Themenspektrum erklärt sich aus der Lebensphase, in der sich die jungen Menschen befinden. Erwachsen zu werden – das ist aufregend und anstrengend zugleich und wirft viele Fragen auf. In Büchern suchen die jungen Leserinnen und Leser nach hilfreichen Antworten.

Es ist aber nicht die Ratgeberliteratur, die hier die Umsatzspitze erklimmt, sondern die Heranwachsenden greifen zur Belletristik - vor allen Dingen zu Liebes- und Beziehungsromanen, zu Fantasy und historischen Stoffen.

Die wichtigsten Lesemotive: Eintauchen und Leichtlesen

Welche Bedürfnisse verbergen sich hinter dem Buchkauf? Das beschreiben die Lesemotive, die MVB und Börsenverein entwickelt haben (mehr dazu hier) – und die mittlerweile auch im Verzeichnis Lieferbarer Bücher (VLB) und bei Media Control hinterlegt sind.

Dabei zeigt sich, dass die Lese-Bedürfnisse bei der Zielgruppe der jungen Erwachsenen von den Bedürfnissen älterer Vielleserinnen und Vielleser abweichen, die sich zum Beispiel an den Spiegel-Bestsellerlisten oder Buchpreisen orientieren:

  • Bei Letzteren ist in der Belletristik „Entspannen“ das wichtigste Lesemotiv.
  • Bei der Zielgruppe „New Adult“ dagegen stehen belletristische Bücher im Mittelpunkt, die die Bedürfnisse Eintauchen und Leichtlesen bedienen.

Beim Lesemotiv Eintauchen geht es um das Bedürfnis nach anderen, auch fiktiven Welten, die eine Abwechslung zum eigenen Alltag bieten. Ähnlich wichtig für die junge Leserschaft ist das Lesemotiv Leichtlesen. Dieser Begriff steht für das Bedürfnis nach unbeschwerter Lektüre mit einfacher Sprache und niedriger Komplexität.

In beiden Fällen geht es darum, beim Lesen einen freien Kopf zu bekommen und sich vom stressigen Alltag zu distanzieren. Beide Lesemotive stehen darüber hinaus für das Bedürfnis, sich emotional beteiligen und (mit-)fühlen zu wollen. Deshalb ist es auch wenig verwunderlich, dass die Themen Liebe und zwischenmenschliche Beziehungen hier besonders gefragt sind.

Dieser Punkt rührt an eine Grundfrage der Lesemotive: Sollten die Bedürfnisse der Zielgruppen im Mittelpunkt stehen - oder haben Buchbranche und Feuilleton den Auftrag, über das Qualitätsniveau des Lesestoffs zu wachen?

Stephanie Lange

Gut oder schlecht?

Der Hang zu Liebe und Romantik sorgt allerdings auch für Kritik: Wie ist es um die inhaltliche Qualität im New-Adult-Segment bestellt? Dieser Punkt rührt an eine Grundfrage der Lesemotive: Sollten die Bedürfnisse der Zielgruppen im Mittelpunkt stehen - oder haben Buchbranche und Feuilleton den Auftrag, über das Qualitätsniveau des Lesestoffs zu wachen?

Die Literaturwissenschaftlerin Christine Lötscher findet dazu in einem SZ-Interview klare Worte: „Im ´New Adult´- Genre haben die Leserinnen sich die Lesekultur zurückgeholt. Sie lassen sich nicht sagen, was gute oder schlechte Literatur ist, sondern entdecken sie für sich selbst.“

Ins selbe Horn stößt Carlsen-Programmleiterin Anne Bender in einem Börsenblatt-Interview (mehr dazu hier):

„Ich frage mich, warum diese Kritik überhaupt entsteht und was man damit bezwecken will. Darf man sich nicht einfach unterhalten lassen? Die Angst, dass die Leser:innen sich nach der Lektüre dieser Bücher in konservative Rollenbilder fügen, halte ich für absolut unbegründet.

Ganz im Gegenteil habe ich den Eindruck, dass das Vergnügen an diesen Klischees und Rollenbildern sie eher empowert, weil sie sich selbst in ihrem eigenen, differenzierteren Rollenverständnis darüber hinwegsetzen können und einfach Spaß an dieser Fülle von Emotionen, dem Schwelgen darin und dem Austausch darüber haben.“

Die Bedürfnisse nach dieser Form von Literatur haben im Übrigen rein gar nichts mit dem Bildungsstand zu tun. Als Ausgleich zum stressigen Uni- oder Berufsalltag lesen auch junge Akademiker:innen die einschlägige Literatur.

Lesebedürfnisse sind situativ

Der Erfolg des New-Adult-Genres veranschaulich damit ein Grundprinzip der Lesemotive: Sie sind situativ. Heute einen Liebesroman von Colleen Hoover und morgen ein feministisches Debattenbuch – das ist kein Widerspruch, sondern gelebte Realität im Leseverhalten der jungen Zielgruppe. Und wir tun gut daran, wenn wir den aktuellen Trend nutzen und diese kaufkräftigen Leserinnen und Leser an uns binden. Aber zu ihren Bedingungen, sonst wird die Beziehung von Vorurteilen geprägt sein und nicht lange halten.

  • Für Verlage hat die Arbeit mit den Lesemotive den Vorteil, dass psychologische Erkenntnisse ihr profundes Wissen rund um inhaltliche Vorlieben der Leser:innen ergänzen – und sie damit potenzielle Käuferinnen und Käufer noch gezielter ansprechen können.
  • Für den Handel bieten die Lesemotive eine Chance, die Titelfülle im Genre „New Adult“ so anzuordnen, dass für die Besucherinnen und Besucher mehr Orientierung entsteht.