Streitkultur in Südtirol

Gericht stellt Verfahren gegen Oekom-Verleger ein

29. Oktober 2020
Torsten Casimir

Wer über Gefährdungen der Meinungsfreiheit redet, weist zu Recht auf den arabischen Raum, auf China, Russland, die Türkei oder Belarus. Eher selten kommt man bei dem Thema auf Südtirol zu sprechen. Zu Unrecht, wie die Geschichte des Oekom-Verlegers Jacob Radloff zeigt. Hier ist sie.

Dass es im Vinschgau für das Bewusstsein um Artikel 11 der EU-Grundrechtecharta („Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung.“) noch Entwicklungsspielraum gibt, erfuhr Jacob Radloff in den vergangenen Monaten am eigenen Leib. Der Vorwurf, gegen den sich der Münchner Fachverleger vor dem Landesgericht Bozen zur Wehr setzen musste, kann einem Beschuldigten durchaus Sorge bereiten: „Mittäterschaft im Verbrechen der erschwerten üblen Nachrede zum Schaden der Südtiroler Obstwirtschaft“. Was war geschehen, dass es zu diesem Ermittlungsverfahren hatte kommen können?

Der Ärger begann im Jahr 2017 mit einem Buch, dem bei Oekom erschienenen Titel „Das Wunder von Mals“. Kein Bestseller, aber ein wichtiges, für eine nachhaltige Agrarwirtschaft in Europa relevantes Buch; es hat sich nach Angaben des Verlegers bis heute rund 13.000 Mal verkauft. Darin berichtet der österreichische Autor und Dokumentarfilmer Alexander Schiebel (auch ihm wird in Italien der Prozess gemacht) über massive Pestizid-Anwendungen im Südtiroler Apfelanbau – und über einige Aktivist*innen und Biolandwirt*innen in ihrem Kampf für eine pestizidfreie Gemeinde.

Das Thema erhielt in Mals und weit über das Dorf hinaus bereits in den Jahren zuvor viel Aufmerksamkeit, denn in einem aufsehenerregenden Bürgerentscheid hatte die Gemeinde Mals 2014 ein kommunales Verbot chemisch-synthetischer Pestizide beschlossen. Das brachte seinerzeit zahlreiche, mit der Verwendung von Pestiziden weniger zurückhaltende Bauern der Region auf den (Apfel)Baum, sie zogen auf dem Rechtsweg gegen das Verbot zu Felde. Am Ende mit Erfolg: Die Gemeinde habe ihre Kompetenzen überschritten, das Referendum sei nicht rechtmäßig gewesen, urteilten die Gerichte. Zugleich verengte die Südtiroler Landesregierung die Möglichkeiten kommunal eigenständiger Regelungen per Gesetzgebung.

"Wir wollen beweisen, dass man ohne Pestizide überleben kann"

In einer Allianz aus Landesregierung, Grundbesitzer*innen, Landwirt*innen und der regionalen Agrarindustrie wurden nicht nur Schiebel und sein Verleger Radloff, sondern auch aktive und ehemalige Vorstände des Umweltinstituts München sowie dessen Agrarreferent Karl Bär, die alle den Autor des Buches bei seinen Recherchen wissenschaftlich unterstützt hatten, mit Klagen überzogen. Im Ursprung ging es um ökologische Fragen: Wie viel wird im Vinschgau, Europas bedeutendster Region für den Apfelanbau, eigentlich gespritzt? Was wird gespritzt? Mit welchen Folgen für Mensch und Natur muss gerechnet werden?

Die, die an der öffentlichen Diskussion dieser Fragen kein Interesse hatten, weil sie für sich erhebliche ökonomische Nachteile befürchteten, verwandelten den Streit in der Sache also in ein juristisches Verfahren. Die Strafanzeige gegen Schiebel und Radloff stellte schließlich Arnold Schuler, der damalige stellvertretende Südtiroler Landeshauptmann und Landesrat für Landwirtschaft. Bei seiner Klientel, den Obstbauern, wird er damit gepunktet haben. Rund 1600 Unterschriften konnten die Obstbauer-Genossenschaften einsammeln, mit denen das gerichtliche Vorgehen gegen Radloff, Schiebel & Co. unterstützt werden sollte.

Für Jacob Radloff ist Schulers Anzeige der klare Fall eines Einschüchterungsversuchs – der allerdings gleich in mehrfacher Hinsicht schiefging. „Die Kläger haben nicht damit gerechnet, was dieses Verfahren für einen Aufwasch auch außerhalb Südtirols nach sich ziehen würde“, sagt der Oekom-Geschäftsführer im Gespräch mit dem Börsenblatt. Schon im Vorfeld der Verhandlung habe ihn eine Welle der Solidarität erreicht.

Zum Beispiel von einem Südtiroler Verlegerkollegen, der Radloff die folgenden, subtil formulierten Zeilen schrieb: „Als Verlag geht einem das Schicksal von Verlegerkollegen verständlicherweise nahe, zumal auch wir schon das eine oder andere Mal gespürt haben, auf wie dünnem Eis man sich in Südtirol mitunter bewegt, wenn man Kritik an den Verhältnissen übt. Und es ist – vor allem wenn man für die eigene Arbeit öffentliche Beiträge erhält – nicht immer einfach, in der eigenen Arbeit von dieser schwach entwickelten Streitkultur unbeeinflusst zu bleiben.“ Deshalb finde er die Debatte um das „Wunder von Mals“ so wichtig und halte ihm, Radloff, die Daumen, dass er mit seinen Argumenten etwas verändern könne.

Das Daumenhalten des Kollegen hat geholfen. Am Donnerstag vergangener Woche entschied das Landesgericht Bozen, die Ermittlungen gegen Radloff und die Mitglieder des Umweltinstituts aus Mangel an Beweisen einzustellen. Gegen Karl Bär und gegen Alexander Schiebel hingegen laufen die Prozesse weiter; Schiebel hat Mitte Januar Gerichtstermin.

Die Solidaritätsbekundungen für Radloff, Schiebel und das Umweltinstitut reichen derweil bis in höchste europapolitische Kreise. Kritik wird vor allem an dem offenkundigen Versuch geübt, unabhängige Recherchen von Journalisten, Buchautoren und NGOs durch das Mittel juristischer Drohkulissen zu verhindern. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, nahm diesen Dienstag Stellung zu den vermehrt auftretenden Klagen einflussreicher Einzelpersonen und Unternehmen gegen NGOs und Journalisten. Mijatovic bewertet solche sogenannten SLAPP-Klagen (Strategic Ligitation Against Public Participation) als wachsende Gefahr für die freie Meinungsäußerung, wobei sie die Klagen gegen den Oekom-Verlag, Alexander Schiebel und das Umweltinstitut München ausdrücklich als konkrete Beispiele nennt.

Das Ziel der klagenden Unternehmen und einflussreichen Einzelpersonen ist es aus der Sicht von Mijatovic nicht, die Prozesse tatsächlich zu gewinnen, sondern den Beklagten Zeit, Energie und finanzielle Ressourcen zu rauben und auf diese Weise deren Kritik zu unterdrücken. Kritische Stimmen von Journalisten und NGOs würden eingeschüchtert und in ihrer Arbeit behindert. Mijatovic forderte den Europarat und seine Mitgliedsstaaten auf, Maßnahmen gegen solche SLAPP-Klagen zu entwickeln und nennt als Vorschläge die Möglichkeit für Gericht und Staatsanwaltschaft, solche Klagen frühzeitig abweisen zu können, sowie Strafen für den Missbrauch des Justizsystems, insbesondere der Umkehrung von Prozesskosten.

Die Prozesskosten belaufen sich für Jacob Radloff mittlerweile auf eine Summe in der Nähe von 30.000 Euro, wie er berichtet. Mundtot machen lässt er sich mit den erzwungenen Aufwänden an zeitlichem und finanziellem Einsatz nicht. „Wir stehen unserem Autor Alexander Schiebel selbstverständlich weiterhin bei.“ Anwaltlich vertreten wird dieser übrigens von Nicola Canestrini und Francesca Cancellaro; die beiden haben in Italien auch schon die deutsche Kapitänin Carola Rackete und ihre Crew des Seenotretters Iuventa verteidigt.