Eröffnung der Frankfurter Buchmesse

Die Lesbarkeit der Welt

19. Oktober 2022
Nils Kahlefendt

Ein königlicher Auftakt: Gemeinsam mit zahlreichen Gästen aus Kultur und Politik wurde die Frankfurter Buchmesse am Dienstagabend eröffnet. Es ist die erste Buchmesse ohne offizielle Corona-Beschränkungen – die jedoch mitten in einer politischen Weltkrise stattfindet.

Wie groß die Sehnsucht nach so etwas wie Normalität zum Auftakt der 74. Frankfurter Buchmesse ist, lässt sich im mit rund 2000 Gästen und Prominenz aus Politik, Kultur und Wirtschaft – darunter der hessische Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) und Kulturstaatsministerin Claudia Roth – vollbesetzten Saal „Harmonie“ mit Händen greifen, als Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs von der „ersten Buchmesse nach der Pandemie“ spricht. 4000 Aussteller aus aller Welt sind an den Main gekommen, immerhin doppelt so viele wie 2021. Es ist die erste Buchmesse ohne Corona-Beschränkungen – die jedoch mitten in einer politischen Weltkrise stattfindet. Die „Buchbegeisterung“, die sich Schmidt-Friderichs von den kommenden Frankfurter Tagen erhofft, wird angesichts der wirtschaftlichen Lage der Branche mehr als dringend gebraucht: Zwar habe sie sich als „krisenfest“ erwiesen und sei „mit hochgekrempelten Ärmeln und unglaublichem Einsatz aller Beteiligten“ durch die Pandemie gekommen – aktuell werde sie jedoch durch Energiekrise, die Explosion der Produktionskosten und auch gestiegene Lohnkosten extrem gebeutelt. „Das schafft eine Branche, die eher margenschwach ist, kaum.“   

Der spanische König Felipe VI würdigte den Weg, den sein Land seit der Franco-Diktatur hin zu Freiheit und zur Demokratie genommen hat. „Wir sind ein starkes und offenes Spanien, das sich den großen Herausforderungen der Welt stellt.“ Lobend hob der Monarch, dessen Vater sich beim Militärputsch gegen das postfaschistische Spanien auf die Seite der jungen Demokratie gestellt hatte, den Einzug der Nationalversammlung in die Frankfurter Paulskirche 1848 hervor. „Man muss nur das Monument von außen anschauen, um stolz zu sein auf den Mut der Deutschen und den kosmopolitischen Charakter der Stadt“, sagte er. Das war Balsam für hessische Ohren. Auch für Goethe, der in Weimar „Das Leben ist ein Traum“ von Pedro Calderón de la Barca auf die Bühne gebracht hatte, fand der König lobende Worte, wie für den Wirtschaftsstandort Frankfurt. Für den spanischen König und Königin Letizia bildet die Station am Main den Abschluss ihres Staatsbesuchs in Deutschland, der sie am heutigen Mittwoch noch zur Europäischen Zentralbank führen wird.

Für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sind Bücher nicht per sé gut, wie es der Buchmesse-Claim „Worte verbinden Welten“ nahelegt. „Kein Krieg, das erleben wir jetzt gerade wieder, ohne Pamphlete, ohne selbstrechtfertigende Reden, ohne Kampfschriften – und leider auch nicht ohne hasserfüllte Bücher und Artikel.“ Die Zerstörung von Bibliotheken und Verlagen in der Ukraine dürfe „uns nicht nur empören, sondern muss uns zu Hilfe und Unterstützung motivieren“. Der Philosoph Hans Blumenberg hat einen seiner geistesgeschichtlichen Problemkrimis „Die Lesbarkeit der Welt“ genannt – für Steinmeier beschreibt dieser Titel die eigentliche Verheißung jeden Buches: dass die Welt verständlich und erklärbar, dass sie der Vernunft zugänglich ist. „Die Bücher sind das unverzichtbare Mittel, die Welt, unser Leben, unsere Gesellschaft, kurzum: uns selbst verstehen zu können.“ Er freue sich auf den Stapel neuer spanischer Literatur, der im Wintergarten von Schloss Bellevue auf ihn warte.

Der spanische Autor Antonio Muñoz Molina („Tage ohne Cecilia“) blickte auf den Gastland-Auftritt Spaniens vor 31 Jahren zurück, bei dem er schon dabei war. Damals habe eine „gedankenlose, utopische Zuversicht“ unter den meist männlichen Autoren geherrscht. Heute sei die spanische Literaturszene vielgestaltiger geworden. „Frauen nehmen den ihnen gebührenden Platz in den Verlagskatalogen ein.“ Menschen mit Zuwanderungserfahrung würden die spanische Literatur weiter bereichern – fast sechseinhalb Millionen kamen in den letzten 31 Jahren nach Spanien. „Es werden die Töchter und Söhne dieser Einwanderer sein, die die Tür zu einer neuen Literatur aufstoßen.“

Die Autorin Irene Vallejo („Papyrus: Die Geschichte der Welt in Büchern“) warb für das Übersetzen, das aus nationaler Literatur Weltliteratur machen könne. Manche Bücher hätten den „Schiffbruch“ im eigenen Land nur vermittels einer Übersetzung im Ausland überlebt. Ganz am Ende ihrer Rede sprach sie die Simultandolmetscherinnen direkt an, die in den stillen, dämmrigen Kabinen hoch über dem Saal „Harmonie“ verlässlich ihrem Handwerk nachgehen. Ein schöner Moment.

 

Nach 90 Minuten eröffnet die Börsenvereins-Vorsteherin voller Vorfreude auf jede Menge bibliodiversidad y creatividad in den Hallen die 74. Frankfurter Buchmesse – mit dem Schlag eines sorgfältig desinfizierten Hammers. Man möchte Wetten abschließen, dass es eine in vielerlei Weise bemerkenswerte Veranstaltung wird. 

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