Wissenswertes zum "Leseland DDR"

Die Gier nach dem Buch

19. März 2025
Holger Heimann

Was hatte es auf sich mit dem "Leseland DDR"? Über diese Frage wurde am 18. März in der Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden lebhaft und unterhaltsam diskutiert.

Gesprächsrunde in Berlin: Luise Tönhardt, Christoph Links, Claudia Lux, Volker Braun (von links)

In der DDR wurde viel gelesen, das ist bekannt. Ebenso weiß man jedoch, dass die Gier nach Büchern abebbte nach der Wende, weil die Rolle der Literatur als Ersatzöffentlichkeit endete. Aber wie genau funktionierte das "Leseland DDR"? Darüber sprach vor mehreren Hundert Zuhörern im bis nahezu auf den letzten Platz gefüllten Humboldt-Saal der Berliner Staatsbibliothek eine klug zusammengestellte Expertenrunde – kenntnisreich moderiert von Christoph Links, einem der Herausgeber der vier Bände und 2.000 Seiten umfassenden Untersuchung zum "Leseland DDR".

Der soll nach China gehen

Allein schon die Einblicke, die Volker Braun – häufig mit einem Schmunzeln – in den Alltag eines Autors in der DDR gab, waren das Kommen wert. Die Literatur hatte eine große Bedeutung in der DDR, eine zu große, so Braun. "Bücher wurden erwartet und gefürchtet." Da konnte es schon einmal geschehen, dass der mächtigste Mann im Staat, Walter Ulbricht, intervenierte, wenn ihm ein Text nicht passte: "Der soll nach China gehen!"

Die Kämpfe um die Veröffentlichung eines Manuskripts konnten sich über Jahrzehnte hinziehen. Volker Brauns "Unvollendete Geschichte", die von der Liebe einer Funktionärstochter zu einem Außenseiter erzählt, erschien 1975 als Vorabdruck in der Zeitschrift "Sinn und Form" und löste heftigen Unmut aus. Es war eine Angelegenheit für das Politbüro. Eine Buchveröffentlichung in der DDR war damit erstmal unmöglich, die Zeitschriftenexemplare wurden am Kiosk eingezogen. Zwei Jahre später kam der Titel bei Suhrkamp heraus und erst 1988 in der DDR. Braun jedoch wollte, dass seine Texte vor allem in der DDR gelesen werden: "Hier gehörten sie hin, hier sollten sie wirken."  

Lesungen mit Verschwörungscharakter

Zuweilen aber ging es auch ganz schnell mit der Veröffentlichung. Braun sprach von den "Mysterien" des Systems, von kaum zu entwirrenden Strukturen und Abläufen. Sein Schriftenband "Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie" erschien 1988 schnell und kurzentschlossen bei Reclam – und erst später bei Suhrkamp. Die DDR-Ausgabe wurde – trotz beständiger Papierknappheit – innerhalb weniger Tage zweimal nachgedruckt. Die 100.000 Exemplare waren sofort weg. Braun erinnerte sich – durchaus sehnsuchtsvoll – an die "Begierde der Leser". Lesungen, bei denen in der Regel nicht fertige Bücher, sondern ungedruckte Texte vorgestellt wurden, hätten zuweilen beinah "Verschwörungscharakter" gehabt. "Man testete Texte. Die Rückhaltlosigkeit der Texte ermöglichte eine rückhaltlose Diskussion." Eisenstangen hätten Autoren zuweilen davor schützen müssen, vom Zustrom der Leser erdrückt zu werden. "Das Buch suchte nicht die Leser, die Leser suchten das Buch." Die Bibliothekarin Claudia Lux sprach von der enormen "Energie", ein bestimmtes Buch unbedingt lesen zu wollen.

Billigdruckland

Die junge Wissenschaftlerin Luise Tönhardt hat einen ganz anderen Blick auf das "Leseland DDR". Für sie war die DDR eher ein Billigdruckland für die Bundesrepublik und das Buch ein wichtiges Handelsgut, mit dem sich Devisen erwirtschaften ließen. Christoph Links wies darauf hin, dass die DDR dieses Geschäft gern ausgebaut hätte, die Bundesrepublik jedoch eher bremste.

Dass sich die Hoffnung westdeutscher Verlage auf einen hohen Zuwachs an Lesern und Buchkäufern aus dem Osten nach der Wende nicht erfüllte, daran erinnerte zuletzt die Wagenbach-Verlegerin Susanne Schüssler, die als Zuhörerin gekommen war. Verwunderlich ist das nicht. Die ostdeutsche Lesegesellschaft war eben gebunden an die speziellen Bedingungen in der DDR.

 

Informationen zum Buch

Vier Bände der umfangreichen "Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert" beschäftigen sich mit der DDR. Der abschließende Band, in dem unter anderem Produktionsbedingungen und das "Leseland DDR" unter die Lupe genommen werden, wurde von Thomas Keiderling, Christoph Links und Klaus G. Saur herausgegeben und ist im Oktober 2024 bei De Gruyter erschienen (624 Seiten, 189,95 Euro).