Leipziger Buchmesse

Abschiedsfeier für Oliver Zille: "Es war ein Wir!"

11. Dezember 2023
Nils Kahlefendt

Oliver Zille, der mehr als 30 Jahre lang die Leipziger Buchmesse geprägt hat, gibt zum Jahresende seine Stellung als Direktor der Leipziger Buchmesse auf. Zum Abschied gab es ein Fest: keine Gala mit Glamour und rotem Teppich, sondern ein Familientreffen mit Bier, Wein und selbstgeschmierten Schnittchen, organisiert von einem kleinen Kreis aus Verleger:innen und Büchermenschen. 

Oliver Zille

„Die Taschentücher bitte einstecken! Geweint wird auf dem Rückweg im Taxi – das soll ein fröhlicher Abend werden!“ Das sagt Leif Greinus, als Oliver Zille – weinroter Rollkragenpulli, Sakko, Jeans, das Buchmesse-Emblem blitzt am Revers, obwohl doch gestern sein letzter Arbeitstag war – den Saal der Alten Handelsbörse betritt und von den rund 120 Gästen mit Standing Ovations begrüßt wird. Um ein Haar wäre die Hauptperson des Abends auch im Verkehrs-Chaos steckengeblieben. Wer es hierher geschafft hat – als Fahrgemeinschaft im Fiat 500 über die A 9 wie Constanze Neumann und Katharina Raabe, als außerplanmäßige Südharzreise über die A 38 wie Thedel von Wallmoden, im vielleicht einzigen aus Bayern durchgekommenen ICE wie Sarah Käsmayr oder durchs adventliche Leipziger Rush-Hour-Chaos, wie Clemens Meyer oder Angela Krauß – wer es also hierher geschafft hat, trotz Lokführer-Streik und Weihnachtsmarkt-Alarm, will dem scheidenden Direktor der Leipziger Buchmesse schlicht Danke sagen für das, was der in mehr als 30 Jahren für die Branche, die Stadt und unzählige Leserinnen und Leser auf die Beine gestellt hat. Der Abend ist keine öffentlich-offizielle Würdigung durch die Messe oder ihre Gesellschafter, Stadt und Freistaat, sondern eine spontane Initiative aus der Branche, organisiert von einem kleinen Kreis um die Verleger Leif Greinus (Voland & Quist) und Annika Bach (E.A. Seemann Henschel Verlagsgruppe). Das hier ist keine Gala mit Glamour und rotem Teppich, es ist ein Familientreffen mit Bier, Wein und selbstgeschmierten Schnittchen. Am 31. Dezember endet Zilles Arbeitsvertrag offiziell. Dass an diesem nasskalten Dezember-Abend auch eine Ära zu Ende geht, realisiert man erst nach und nach. Über die Gründe wird nicht explizit gesprochen, jedenfalls nicht in offene Mikrofone. Der Hallraum zwischen den Sätzen ist mit Bedeutung aufgeladen.

Ich habe nicht damit gerechnet, dass auf einem Posten wie Ihrem eine Person sitzt, die sich tatsächlich für die Dinge interessiert. Jemand, der nachdenkt über das, was ihm begegnet, ist schon etwas Besonderes.

Insa Wilke, Juryvorsitzende des Preises der Leipziger Buchmesse

Eine Fliege als Zille-Zitat

Leipzigs Literaturhaus-Chef Thorsten Ahrend bekennt, seit seiner Jugendweihe den obersten Hemdknopf nicht mehr geschlossen zu haben. Heute trägt er eine schwarze Fliege – „als Zille-Zitat zum feierlichen Anlass“. Die Arbeit des Buchmesse-Direktors wurde aus vielen Quellen gespeist; Ahrend, der fürs Netzwerk der 15 Literaturhäuser im deutschsprachigen Raum am Mikro steht, das seinen Preis auch weiterhin in Leipzig verleihen möchte, ist eine von vier Stimmen aus der Branche, die stellvertretend das Wort ergreifen. Er erinnert an seine Zeit als junger Lektor bei Reclam Leipzig. Damals, 1990, hatte kaum jemand einen Pfifferling darauf gegeben, dass die Leipziger Buchmesse eine Überlebens-Chance hat. Theo Schäfer und der Bertelsmann Club bewiesen mit „Leipzig liest“, dass die Stadt eine Bürgerschaft hat, die für Literatur, für ihre Messe brennt. Dass es dann nach dem Rückzug des Clubs aus der Finanzierung gelungen war, Verlage, Publikum und Medien für die Buchmesse zu mobilisieren, sei ein immenses Verdienst des Direktors – gerade in Zeiten, in denen der Wind gern mal von vorn kam. „Dazu brauchte es jemanden, der in der Mitte steht.“

Es gibt nicht viele Formate, die schon vor der Wende existiert und diesen Systemumbruch überdauert haben.

Skadi Jennicke, Leipziger Kulturbürgermeisterin

Unerhörte Sätze

Insa Wilke, die Zille 2015/16 als Kuratorin des Buchmesse-Programmschwerpunkts „Europa 21“ persönlich kennenlernte und aktuell der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse vorsitzt, spricht on screen für Literaturvermittler und Kritikerinnen – und stellvertretend für all die, die kommen wollten, aber leider nicht konnten. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass auf einem Posten wie Ihrem eine Person sitzt, die sich tatsächlich für die Dinge interessiert“, sagt Wilke. Und schiebt nach, dass jemand, „der nachdenkt über das, was ihm begegnet“, schon „etwas Besonderes“ sei. Unerhörte Sätze, eigentlich, im Saal reibt man sich die Augen, Beifall brandet auf. „Sie haben uns gezeigt, wie’s geht“, schließt Wilke, „und wofür es sich zu kämpfen lohnt. Sie haben die Leipziger Buchmesse zu einem Ort gemacht, an dem Literatur und Bücher nicht nur vom Ökonomischen gedacht werden – sondern als Möglichkeit, die Grundzüge und Konflikte unserer Gesellschaft zu verhandeln.“ Leipzig als Ort im Osten, mit einer ganz eigenen Tradition – der aber dazu einlädt, das gesamte Deutschland – und Europa! – zu denken: Ist es so schwer zu verstehen?

Sie gehen ausgerechnet jetzt, wo wir Sie mit ihrem Team dringender denn je brauchen: Ihre Neugier, Ihre Kooperationslust. Ihre zielgerichtete Ernsthaftigkeit.

Katharina Raabe, Suhrkamp-Lektorin

Zirkus und Zaubershow

Als Katharina Raabe Anfang der Zweitausendzehnerjahre mit Oliver Zille über einen kommenden Messeschwerpunkt zur Literatur der Länder Polen, Ukraine und Belarus tagträumte (der dann, kuratiert von Österreicher Martin Pollack, Wirklichkeit wurde), fühlte sie sich hinterher wie nach einem Glas Champagner. Und nun? „Sie gehen ausgerechnet jetzt, wo wir Sie mit ihrem Team dringender denn je brauchen“, sagt die Osteuropa-Netzwerkerin und Suhrkamp-Lektorin in der Alten Börse, und listet auf, was sie meint: „Ihre Neugier, Ihre Tatkraft, Ihre Kooperationslust. Ihre zielgerichtete Ernsthaftigkeit. Ihre Gabe, das Ganze zu denken.“ Auch Aufbau-Verlagsleiterin Constanze Neumann, geborene Leipzigerin, erinnert sich: An ihr erstes Verlagspraktikum bei Reclam in der Inselstraße, Frühjahr 1999, und ihren ersten Standdienst in den im Jahr zuvor bezogenen Messehallen vor den Toren der Stadt. „Wie eine Mischung aus Zirkus und Zaubershow kam mir die Buchmesse in meiner Kindheit vor“, sagt Neumann. „Eine Welt hinter den Spiegeln, in der vieles lebendig wurde – und die Dimension des DDR-Alltags auf den Kopf gestellt.“ Jener Oliver Zille, den die Praktikantin aus der Ferne sah, kam ihr wie eine Mischung aus Zirkusdirektor und Zauberer vor. Der Zauberspruch: Eine Stadt feiert Buchmesse! „Es musste sich alles ändern, damit alles so bleiben konnte.“

Offene Worte in unbequemen Zeiten

Spontan und abseits aller protokollarischen Verpflichtungen meldete sich auch Leipzigs Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke zu Wort. „Ich wünschte mir, es hätten wirklich alle Leipzigerinnen und Leipziger verstanden, was Sie da an Großem geleistet haben“, sagte Jennicke, an Zille gewendet. „Es gibt nicht viele Formate, die schon vor der Wende existiert und diesen Systemumbruch überdauert haben.“ Er habe es geschafft, den stets auch aufmüpfigen Spirit der Buchmesse in die neue Zeit zu tragen: „In widerständigem Geist das Fenster aufzustoßen zur Welt, Welt reinzulassen, den Mut zum offenen Wort auch in unbequemen Zeiten und gerade dann zu wahren.“ 

Die Leipziger Buchmesse ist ein Mannschaftswerk von Menschen mit Ideen. Meine Aufgabe war, die zusammenzubinden, weiterzuentwickeln.

Oliver Zille, scheidender Buchmessedirektor

Auftritt Oliver Zille

Was soll der Gepriesene nach einem Applaus, der, wie Leif Greinus sich wünscht, „bis in die Dresdner Staatskanzlei zu hören ist“, sagen? Zumal als gewesener Angehöriger einer Berufsgruppe, die, wie Peter Weidhaas einmal meinte, eigentlich „immer in der Zukunft“ lebt? „Vor 526 Jahren, als die Buchmesse zum ersten Mal erwähnt wurde, war ich noch nicht dabei“, meint Zille mit augenzwinkerndem Understatement. Aber auch, um so etwas wie Heldenverklärung gleich im Keim zu ersticken. Er möchte nicht „ich“ sagen, auf dem „wir“ besteht er: „Die Leipziger Buchmesse ist ein Mannschaftswerk von Menschen mit Ideen. Meine Aufgabe war, die zusammenzubinden, weiterzuentwickeln.“ Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus seinem Team sitzen im Saal; die ein oder andere Träne fließt nun doch, trotz Leif Greinus’ anfänglichen Appell an Frohsinn und Leichtigkeit. „Ich bin ein Leipziger Messekind“, sagt Zille über Zille. Das erste internationale Publikum, dessen der kleine Oliver in der größten DDR der Welt ansichtig wurde, waren die Messegäste daheim bei den Eltern. Als Jugendlicher faszinierte ihn der Charakter der Messe als „gesellschaftliches Ereignis“, in other words: „Es war richtig was los!“ Das war seine Vision für die Buchmesse: Keine „Versammlung von Spezialisten“, sondern: Auf den Putz hauen, ein Ereignis stiften. „Wir haben das als Stadt gemeinsam gewuppt. Wenn sich dieser Geist erhalten lässt, wird es mit der Buchmesse auch in Zukunft gut.“ Die Schlange derer, die sich persönlich bei Oliver Zille bedanken wollen, wird über eine Stunde nicht abreißen. Jazz pluckert dezent aus den Boxen, Gott sei Dank ist auch Gelächter zu hören. Und irgendwann, als es schon gegen Mitternacht geht, kurz Frank Sinatra: I did it my way.