Künstliche Intelligenz

Die Zukunft hat schon begonnen

7. Juli 2018
Redaktion Börsenblatt

Welchen Einfluß haben Künstliche Intelligenzen auf unser Denken und Fühlen? Und vor allem: Welche Auswirkungen auf unser persönliches und gesellschaftliches Leben sind bereits heute wahrnehmbar? In seinem Buch »Die kreative Macht der Maschinen« hat Holger Volland darauf verblüffende Antworten gegeben.

Wenn wir heute über Künstliche Intelligenz (KI) reden heißt es bei vielen, dass wir von »echter« KI noch meilenweit oder gar Jahrzehnte entfernt sind, dass man derzeit eher von intelligenter Technologie sprechen sollte, dass die heute vorhandenen Algorithmen zur Bilderkennung, Übersetzung usw. zwar beeindruckende Ergebnisse liefern und uns auf vielen Gebieten erheblich unterstützen, aber im Grunde doch nur technische Assistenten sind, die unser Denken und Fühlen nur unwesentlich beeinflussen.

Warum dass Gegenteil stimmt, hat Holger Volland, Mitglied der Geschäftsleitung der Frankfurter Buchmesse, jetzt in seinem neuen Buch Die kreative Macht der Maschinen schlüssig dargelegt. Anhand zahlreicher und vor allem verblüffender Beispiele zeigt er auf, wie fundamental Künstliche Intelligenzen heute schon unser Leben beeinflussen. Es ist ein mit leichter Hand verfasstes Buch, das ohne theoretisches Vorwissen für jene geschrieben wurde, die sich kritisch mit dem gegenwärtigen Stand der Digitalisierung auseinandersetzen möchten. Und um es gleich vorwegzunehmen: Holger Volland steht nicht in der Reihe derer, die bei jeder Neuerung den Untergang des Abendlandes dämmern sehen. Er ist allen technischen Innovationen gegenüber aufgeschlossen, ja geradezu neugierig auf das, was durch die Digitalisierung auf uns zukommt. Aber er sieht auch die Risiken des technologischen Wandels. Und er sieht sie wesentlich genauer und radikaler als viele Warner, die sich aus einer grundsätzlichen Abwehrhaltung gegen alles Neue gern verbarrikadieren. Holger Volland schreibt eben nicht mit spitzer Feder, sondern mit chirurgischer Präzision. Und wie Jaron Lanier weiß er genau, worüber er spricht.

KI gegen Fake-News

Es ist nicht so ganz einfach, dem gedankenreichen Buch in einer kurzen Besprechung gerecht zu werden. Beginnen wir mit den Chancen der KI. Schlaue Algorithmen sind heute schon in der Lage, durch maschinelles Lernen herauszufinden, »wann Texte oder Videos echt sind und wann nicht«, schreibt Holger Volland. »Dabei kommt ihnen die schiere Menge an Falschmeldungen zu Trainingszwecken zugute, denn durch diese umfangreiche Analyse können die Programme Wahrscheinlichkeiten dafür errechnen, welche Faktoren dafürsprechen, dass ein Inhalt Fake-News ist.« Das ist zweifelsohne ein positiver Effekt. Künstliche Intelligenzen leisten darüber hinaus längst in der medizinischen Diagnostik unschätzbare Dienste – um hier nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Das kreative Potential der KI

Einer breiten Öffentlichkeit wohl noch nicht so bekannt ist die Tatsache, dass in der KI ein erstaunliches kreatives Potential steckt. So hat die KI »Watson« von IBM 2016 »selbständig den Trailer zum Film Das Morgan-Projekt kreiert.« Hier kann man sich diesen Trailer anschauen:

Und hier können Sie weitere Informationen dazu entnehmen, wie der Trailer gemacht wurde.

Künstliche Intelligenzen sind auch in der Lage, zu malen wie Rembrandt. Holger Volland erwähnt in diesem Zusammenhang den in Berlin lebenden polnischen Künstler Roman Lipski, der sich von einem Algorithmus inspirieren lässt. Hier kann man näheres dazu nachlesen. KI kann auch komponieren wie Bach. »Es fällt schwer«, schlussfolgert Holger Volland, »Künstlichen Intelligenzen jegliche Kreativität abzusprechen, nur weil ihre Prozesse und Fähigkeiten anders aufgebaut sind als bei uns Menschen.«

KI auf großer Bühne

Vielen Buchmenschen wird noch nicht bekannt sein, dass KI eine Popsängerin erschaffen hat, die Konzerte vor einem Massenpublikum gibt. Hatsune Miku heißt der Avatar. Sie ist ein japanischer Megastar mit programmierter Vocaloid-Stimme. »Vocaloid ist ein Software-Synthesizer, der mittels Sprachsynthese künstlichen menschlichen Gesang erzeugen kann. Das Programm braucht dazu nur eine Melodie, einen Text und eine ausgewählte Stimme, schon singt die Maschine ganz von selbst.« Inzwischen tourt Hatsune Miku mit großem Erfolg (und mit einer echten Band!) auch durch Europa und Amerika. Hier ein kurzer Ausschnitt aus einem Konzert in Japan:

Neben der Performance selbst ist die Begeisterung des Publikums in der Tat bemerkenswert.

Holger Volland erwähnt noch ein weiteres Beispiel aus diesem Bereich: Eine Bühnenanimation des Designers Tobias Gremmler, die er für die GuoGang Opera Company aus Taiwan entwickelt hat. Seine virtuellen Schauspieler sind körperlos, geistergleich schweben ihre Kostüme über die Bühne.

Doch diese technischen Möglichkeiten haben auch ihre Schattenseiten. Dazu ein längeres Zitat aus dem Buch: »Der französische Politiker Jean-Luc Mélenchon etwa erschien seinem Publikum im Wahlkampf 2017 live in Lyon. Nach einem Fingerschnippen von ihm tauchte er dann parallel in einem Saal in Paris auf und später sogar an sechs Orten gleichzeitig, darunter auch auf der Tropeninsel La Réunion, deren Wähler nicht allzu oft Besuch von ihren Kandidaten erhalten. Damit vermittelte er Modernität ebenso wie Nähe zu seinem Volk an jedem Ort der Republik. Was für eine Aussage! Derart kraftvolle Inszenierungen der eigenen Übermenschlichkeit sind natürlich auch für popularitätsbetonte Politiker vom Schlage des türkischen Staatsführers Recep Tayyip Erdogan interessant: Er ließ sich als holografische Simulation in eine Parteiversammlung in Izmir hineinzaubern, während sein reales Ich zeitgleich mit anderen Dingen wie etwa Korruptionsvorwürfen beschäftigt war. Eingeleitet wurde sein Auftritt mit einem Lichteffekt, der an das Beamen aus der alten Serie Star Trek erinnerte. Die Botschaft war klar: Erdogan ist so groß, so mächtig, so übermenschlich, er beugt selbst die Gesetze der Physik.«

Auf dem Weg in eine gläserne Welt

All diese genannten technologischen Möglichkeiten (und die vielen weiteren, die Holger Volland in seinem Buch beschreibt) haben natürlich auch ihre Schattenseiten. Algorithmen können nur lernen, wenn sie mit Unmengen von Daten gefüttert werden – mit unseren Daten, mit unserer Partizipation. Und hierbei geht es schon längst nicht mehr nur um uns als gläserne Personen, sondern um eine gläserne Gesellschaft, sogar eine gläserne Welt. Mit unseren neuen digitalen Sinnesorganen in Form von Kameras, Sensoren, Mikrophonen, Wearebles und was sonst noch kommen mag vermessen wir ununterbrochen »alle Ecken und Winkel unserer Welt, unsere Wohnungen, Städte und Arbeitsstätten [werden] völlig transparent.« Die Verantwortung liegt bei uns ist das letzte Kapitel des Buches überschrieben. Dem Buch ist dafür zu danken, dass es uns vorhält, welche Ausmaße die Digitalisierung unserer Welt bereits angenommen hat, dass wir heute schon in unserem Denken und Fühlen steuerbar sind, dass die Zeit längst gekommen ist, darauf neue Antworten zu finden. Etwa in der Mitte seines Buches zitiert Holger Volland den amerikanischen Computerwissenschaftler Pedro Domingos mit einem sehr nachdenklich stimmenden Satz: »Die Menschen haben Angst, dass Computer zu schlau werden und unsere Welt übernehmen könnten. Das eigentliche Problem ist aber doch, dass sie dumm sind und die Welt bereits übernommen haben.«