Die Zukunft des Lesens

Vom Wert der Wörter

1. Mai 2017
Redaktion Börsenblatt
Die Umsätze mit gedruckten Büchern sind weitgehend stabil, E-Books für viele Verlage ein lukratives Zusatzgeschäft. Alles in Ordnung auf dem deutschen Buchmarkt? Karl-Ludwig von Wendt widerspricht: »Es ist ein gefährlicher Trugschluss, zu glauben, dass wir schon am Ende der digitalen Revolution des Buchmarkts angekommen sind. Im Gegenteil, es geht gerade erst richtig los!«

Vor vielen Jahren, im ersten Semester meines Studiums der Betriebswirtschaftslehre, habe ich gelernt, dass der Wert einer Sache nicht dadurch bemessen wird, wie viel Herzblut, Arbeit, Material etc. für die Herstellung aufgewendet wurden, sondern ausschließlich davon abhängt, was andere bereit sind, dafür zu bezahlen. Das ist eine sehr ernüchternde und gerade für mich als Schriftsteller oft schmerzhafte Erkenntnis. Und sie wird noch ernüchternder und schmerzhafter, wenn man sich im Detail anschaut, wofür unsere Kunden, die Leser, bereit sind, Geld auszugeben.

Man sollte meinen, für den Wert der Wörter sei die Form unerheblich, allein auf den Inhalt komme es an. Das stimmt, wenn man nur auf die Rezeption schaut – ob ich ein kluges oder spannendes Buch digital oder gedruckt lese, hat auf die Wirkung keinen messbaren Einfluss. Ich selbst habe mich vor Kurzem wieder dabei erwischt, wie ich im heimischen Bücherregal verzweifelt ein Buch suchte – bis mir aufging, dass ich es nur als E-Book gelesen hatte.

Der gegenwärtige Buchmarkt

Schauen wir jedoch auf die Realität des Buchmarkts, ergibt sich ein anderes Bild: Die meisten Menschen haben kein Problem damit, zwanzig Euro für ein hochwertig gebundenes Buch auszugeben. Kaum jemand ist dagegen bereit, denselben Betrag – oder achtzig, neunzig Prozent davon – für ein E-Book zu bezahlen. Die Preise für E-Books fallen rapide, laut Börsenverein allein von 2015 auf 2016 um durchschnittlich mehr als 6%. Dabei sind Selfpublishing und E-Book-Flatrates wie Amazons »Kindle Unlimited« noch nicht einmal eingerechnet.

Noch sind E-Books für die meisten Verlage ein höchst lukratives Zusatzgeschäft. Doch wie lange wird das noch so bleiben? Gibt es eine natürliche Grenze für den Preisverfall des digitalen Lesens oberhalb von null Euro? Zahlreiche Beispiele aus der Spiele- und Musikindustrie zeigen, dass am erfolgreichsten solche Modelle sind, die Nutzern einen vollkommen kostenlosen Einstieg ermöglichen. Nur eine kleine Minderheit der Spieler und Musikhörer kauft dann zusätzliche »Ingame Items« (zum Beispiel einen virtuellen Traktor) oder schließt ein werbefreies Flatrate-Abo ab und finanziert so das Angebot. Es liegt auf der Hand, dass dabei für die Künstler nicht viel übrig bleibt. Das Beispiel von Zeitungen und Zeitschriften, die große Mühe haben, ihre journalistische Arbeit über Bezahlschranken und Online-Abos digital zu verkaufen, zeigt, wie schwer es ist, die Leser wieder aus der »digital = kostenlos«-Erwartungshaltung herauszuholen.

Das Kaufverhalten der Leser

Wir müssen der Tatsache ins Gesicht sehen, dass unsere Kunden nur sehr widerwillig bereit sind, für digitales Lesen Geld zu bezahlen. Sobald es eine sinnvolle Alternative gibt, wird sie genutzt. Es steht also zu befürchten, dass das Kostenlos-Modell auch bei E-Books um sich greifen wird. Noch ist beispielsweise »Kindle Unlimited« ein eigenständiger, kostenpflichtiger Abodienst mit wenigen Spitzentiteln und zumindest in Deutschland vermutlich relativ geringen Nutzerzahlen. Doch wer sollte Amazon davon abhalten, diesen ohne Mehrkosten in ihr äußerst erfolgreiches »Prime«-Programm zu integrieren, wie dies bereits mit Musik und Videos geschehen ist? Das würde die Kindle-Gerätefamilie gegenüber dem Tolino deutlich attraktiver machen und dem Unternehmen neue Prime-Kunden bescheren, die dann dort auch Waschmaschinen und Rasenmäher bestellen. Selbst, wenn die kostenlosen E-Books für Amazon ein Verlustgeschäft wären, könnte sich das also unterm Strich lohnen.

Über Flatrates für Bücher

Natürlich kann Amazon nicht allein darüber entscheiden, ob die Verlage die Rechte an ihren Titeln für eine solche Flatrate hergeben. Doch Selfpublishing und Amazon-eigene Imprints liefern bereits eine breite Titelbasis, und bei Bedarf kann Amazon Top-Autoren mit lukrativen Konditionen ködern. Im Videomarkt haben Amazon und Netflix längst bewiesen, dass sie sehr wohl in der Lage sind, selber exzellenten Content zu produzieren, wenn die großen Filmstudios nicht mitspielen. Irgendwann könnte der Druck auch in der Buchbranche so groß werden, dass selbst aktuelle Bestseller unmittelbar nach Erscheinen oder spätestens nach wenigen Monaten in den Flatrates zu finden sind.

Selbst, wenn es immer Bücher geben wird, die nicht sofort in Flatrates lesbar sind, so würde sich auch auf diese der Preisdruck massiv auswirken. Welcher Netflix-Abonnent kauft schon einen aktuellen Kinofilm auf DVD zu einem Preis, zu dem er anderthalb Monate lang beliebig viele Filme und Serien ansehen kann, zumal wenn er ihn ein Jahr später ohnehin umsonst bekommt? Muss ich wirklich das neuste Karl Olsberg-E-Book für 10 Euro kaufen, wenn ich einen zwei Jahre alten Olsberg-Roman, der genauso spannend ist, kostenlos lesen kann? Verlage hätten dann noch die Wahl zwischen Pest – schwindenden Stückmargen – und Cholera – minimalen E-Book-Absatzzahlen.

Auch für uns Autoren bedeutet das nichts Gutes: In den USA läuft Kindle Unlimited dem traditionellen E-Book-Einzelverkauf zumindest im Selfpublishing längst den Rang ab. Gleichzeitig sinken dadurch die Einnahmen der Autoren rapide [selfpublisherbibel], denn ein »ausgeliehenes« Exemplar bringt deutlich weniger ein als ein verkauftes, erst recht, wenn es nicht bis zum Ende gelesen wird. Dass man für so ein Flatrate-Modell keine Buchhändler mehr braucht, muss wohl nicht extra erwähnt werden.
Na und, mögen Sie vielleicht denken: Was interessieren mich E-Books? Das gedruckte Buch ist doch stabil, der Umsatzanteil von E-Books sogar rückläufig.

Der Umsatzanteil schon, aber nicht der Leseanteil. Es liegt auf der Hand, dass bei einem E-Book-Preis von null Euro auch der Umsatzanteil null wäre, aber das heißt nicht, dass solche kostenlosen Angebote keinen Einfluss auf den Kauf gedruckter Bücher hätten. Es ist ein gefährlicher Trugschluss, zu glauben, dass wir schon am Ende der digitalen Revolution des Buchmarkts angekommen sind. Im Gegenteil, es geht gerade erst richtig los!

Die gute Nachricht ist: Die Preise für gedruckte Bücher sind bisher stabil, steigen sogar leicht. Menschen verstehen intuitiv, dass ein Produkt, das man in die Hand nehmen und ins Regal stellen kann, etwas kosten muss, und sind auch bereit, dafür Geld auszugeben. Wenn dieses Produkt besonders hochwertig und vielleicht selten oder sogar einzigartig ist, dann geben sie unter Umständen sogar sehr viel Geld dafür aus. Niemand würde eine E-Book-Ausgabe von Charles Darwins »Die Entstehung der Arten« für über hunderttausend Euro ersteigern – eine Erstausgabe des gedruckten Buchs dagegen kann so viel wert sein, weil sie bedeutend und selten ist. Zwischen dem Preis eines Taschenbuchs und solchen Beträgen ist noch eine Menge Platz. Ich vermute, die Buchbranche könnte in dieser Hinsicht von der Musik- und Spieleindustrie lernen und zum Beispiel mehr limitierte »Special Editions« von Büchern herausbringen, oder auch aufwändig gestaltete »Erlebnisbücher« wie das großartige »S. – Das Schiff des Theseus«. Da scheint mir noch einiges an ungenutztem Marktpotenzial zu liegen.

Untersuchungen australischer Forscher haben gezeigt, dass beim Gedanken an ein gedrucktes Buch ganz andere Hirnregionen aktiv sind als beim Gedanken an ein E-Book [Zur Studie]. Das mag erklären, warum manche an sich ehrliche Menschen offenbar keine Skrupel haben, illegal E-Books herunterzuladen. Es erklärt vermutlich auch den krassen Unterschied in der Preisakzeptanz zwischen E-Books und gedruckten Büchern.

Ein Plädoyer für das gedruckte Buch

So sehr ich mir als Autor wünschen würde, dass die Leser in erster Linie für meine Wörter bezahlen und nicht für die Form, in die sie gekleidet wurden: Die Wahrheit ist, nur die gelungene Einheit aus beidem stellt für viele Menschen einen echten Geldwert dar.
Sollen wir also einfach weitermachen wie bisher und hoffen, dass schon alles nicht so schlimm wird? Das wäre reichlich naiv. Stattdessen sollten wir überlegen, was wir tun können, um das gedruckte Buch als Wertträger noch attraktiver zu machen. Hier sollten, hier müssen alle an einem Strang ziehen: Autoren, Verlage, Zwischenbuchhändler, Buchhändler und alle anderen, denen etwas an der Vielfalt der Buchkultur und damit auch an der Meinungsvielfalt liegt.

Ansatzpunkte dafür gibt es durchaus: Hochwertige Buchausstattung, limitierte Sonderausgaben oder auch die Verknüpfung digitalen Lesens mit dem gedruckten Buch, wie wir es mit der von mir mitentwickelten kostenlosen Weiterlese-App Papego ermöglichen. Alles, was es dem Leser leichter macht, sich für die gedruckte Ausgabe zu entscheiden, hilft.

Wohlgemerkt, dies ist ein Plädoyer für das gedruckte Buch, nicht gegen das E-Book. Digitales Lesen wird nicht einfach wieder verschwinden, bloß weil manche das gerne hätten. Eine Abkehr der Verlage und Händler von digitalen Inhalten wäre fatal. Ich plädiere dafür, aktiv mit Flatrates, kostenlosen E-Books und Bundles zu experimentieren und die Initiative nicht aus Angst vor dem Wandel anderen zu überlassen. Idealerweise lernen wir daraus mehr darüber, wo aus Lesersicht die Vorteile des digitalen Lesens liegen und wo dagegen das gedruckte Buch punkten kann. Wenn es uns dann gelingt, beides in einem Produkt zu kombinieren, das die Leser sowohl inhaltlich begeistert als auch ihnen einen echten Mehr-Wert bietet, dann haben wir alle auch im digitalen Wandel eine Zukunft.