Inspiriert von Autoren wie Kenneth Goldsmith, die das »Unkreative Schreiben« propagieren, entwickelt Hannes Bajohr seit einiger Zeit seinen ganz eigenen Begriff der »digitalen Literatur«. Der jüngst in der Edition Suhrkamp erschienene Band Halbzeug dokumentiert diesen spannenden Weg, den er zusammen mit Gregor Weichbrodt unter dem Kürzel 0x0a beschreitet.
Das Gefühl, dass in der Kunst eigentlich schon alles gesagt ist, ist kein neues: Ob Sprachkrise des Lord Chandos, surrealistische Écriture automatique oder vom Sinn entkoppelte Lautpoesie der Dadaisten – breit gefächert sind die Versuche, einer immer komplexer erscheinenen Wirklichkeit mit den Mitteln der Sprache beizukommen.
Kenneth Goldsmith, der als Galionsfigur und selbsternannter Erfinder des »Unkreativen Schreibens« auftritt, ist eigentlich als bildender Künstler gestartet. Nach eigener Aussage haben ihn der erste Kontakt mit Computern in den frühen neunziger Jahren und das Internet zum unkreativen Schreiber gemacht. Nach dieser Methode kann jede Art von Text zum poetischen Material erklärt werden – wenn der Künstler es entscheidet. Mit diesem Duchamp-artigen Literaturverständnis begann Goldsmith nun wiederum, Bücher zu »produzieren« – Bücher von beeindruckendem Umfang, in denen aber keine Zeile selbst verfasst ist. Stattdessen versammeln sie seitenweise transkribierte Sportergebnisse, Wetterberichte und Verkehrsnachrichten oder, wie in einem seiner letzten Bände, Capital, ein Sammelsurium an Zitaten aus Geschichtswerken, persönlichen Erinnerungen, Zeitungsartikeln, Romanen, Regierungsdokumenten oder E-Mails, die alle zusammengefasst in einem gold schimmernden Hardcover-Band der Stadt New York ein Denkmal setzen.
Zeit verschwenden im Internet
In seinem Buch Uncreative Writing. Sprachmanagement im digitalen Zeitalter, das 2011 zunächst auf Englisch erschien, erklärt Goldsmith, der auch inzwischen auch akademische Kurse zu Themen wie »How to waste time on the Internet« gibt, seine Herangehensweise. Ungefähr zur selben Zeit hielt sich der junge Philosophiedoktorand Hannes Bajohr an der Columbia University in New York auf. Bajohr ist Experte für Peter Weiss, Hannah Arendt, Judith N. Shklar und Hans Blumenberg, über den er seine Doktorarbeit geschrieben hat. Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen seiner akademischen und schriftstellerischen Arbeit ist vielleicht die Sprachskepsis, die eines der zentralen Themen der Philosophie des 20. Jahrhunderts ausmacht. Unter den ersten Texten, die er zusammen mit Gregor Weichbrodt unter dem Label 0x0a (das Steuerzeichen für einen Zeilenumbruch im Hexadezimalsystem) veröffentlichte, war der Wendekorpus. Dieser Werktitel speist sich aus seiner Quelle, dem Deutschen Referenzkorpus, einer wissenschaftlichen digitalen Sammlung schriftlicher Texte in deutscher Sprache, die derzeit etwa 42 Milliarden laufende Textwörter enthält. Ein aus gut drei Millionen Einträgen bestehender Teil dieser Sammlung, die sogenannte Wendekorpora West+Ost, wurde dafür nach mit »wir« beginnenden Sätzen von exakt sechs Worten Länge durchsucht und alphabetisch sortiert. Das Ergebnis ist ein Chor, der brutal auf den Kern zusammengestutzte Selbstauskünfte versammelt – insgesamt 200 Zeilen lang:
wir atmen wieder, aber welche luft?
wir bedauern das nach wie vor
wir begründen heute unseren gemeinsamen staat
wir begrüßen ihn aus ganzem herzen
wir bekamen 30 sitze im rathaus
wir bekamen nicht einmal eine einladung
wir bekennen uns zu sozialistischem unternehmergeist
wir bekennen uns zu unserer friedenspflicht
wir bekommen täglich post zur eigentumsfrage
wir besitzen sie doch überhaupt nicht
wir blieben einfach nicht hart genug
wir blieben strittig an diesem tag
wir brauchen aber auch weitere unterscheidungen
wir brauchen freundlichkeit und güte, charme
wir brauchen hilfe zum selbständigen überleben
(zuerst erschienen in: EDIT 65/2014, weiterlesen hier: http://0x0a.li/de/text/wendekorpus/)
Den Korpus gegen den Strich lesen
Was hier geschieht, ist die Anwendung genuin unkreativer Methoden auf ein vorgefundenes Material, mit dem vor allem Sprach- und Literaturwissenschafter arbeiten: Einen Korpus, in dem Textäußerungen nach bestimmten Kriterien in digitaler Form archiviert sind, und der damit ideales Material für eine nicht-kreative Zugänge liefert und somit perfekt zweckentfremdet und gegen den Strich gelesen werden kann. Natürlich eignet sich in dieser Hinsicht auch jede andere Art von Textsammlung als Basis für den künstlerischen Zugriff – und hier erweisen sich Bajohr und Weichbrodt als geschickte Fährtenleger: Sei es der Kanon der deutschen Literatur in der zwanzigbändigen Insel-Ausgabe von Marcel Reich-Ranicki, aus dem sie einen 200-seitigen Durchschnittsroman errechnen, oder eine zehn Millionen Wörter umfassende Sammlung erotischer Geschichten der einschlägigen Webseite literotica.com, aus der sie alle lautmalerischen Buchstabenkombinationen extrahieren und damit ein Langgedicht der sexuellen Lustschreie erzeugen – besitzt man eine hinreichend große Menge an Ausgangsmaterial, lässt sich das Prinzip ins Unendliche fortsetzen.
Wovon wir reden, wenn wir von digitaler Literatur reden
Da seit Mitte der Zehner Jahre vermehrt Verlagsprojekte von sich reden machten, die das digitale Verlegen in den Mittelpunkt stellen, erfährt auch der Begriff der digitalen Literatur eine größere Aufmerksamkeit. Gleichzeitig ist eine Schärfung des Begriffs zu beobachten: Anders als die Hypertext-Literatur, eine kleine, begrenzte Bewegung um das Jahr 2000 herum, die erstmals über den Einfluss des World Wide Web auf das Schreiben nachdachte, aber auch anders als die Idee vom E-Book als Format digitaler Literatur sind es Autoren wie Hannes Bajohr und Gregor Weichbrodt, aber auch Jörg Piringer oder Andreas Bülhoff, die ihr Schreiben konzeptuell digital begreifen. Das heißt: Mit Medien wie dem Internet oder digitalen Hilfsmitteln wird es erst möglich, Texte so zu erzeugen, wie sie es tun. Flankiert und unterstützt wird diese Bewegung von engagierten Verlegerinnen wie Christiane Frohmann – für die Hannes Bajohr den Sammelband Code und Konzept. Literatur und das Digitale herausgegeben hat. In der akademischen Lehre sind auch Stephan Porombka und Annette Gilbert am Diskurs über unkreatives Schreiben, Appropriation und konzeptuelle Literatur beteiligt.
Purge the world of bourgeois sickness
Es liegt wohl in der Natur der Sache, dass sich sowohl Kenneth Goldsmith als auch Hannes Bajohr vorwerfen lassen müssen, literaturferne, coole Avantgarde zu betreiben – umso erfreulicher dagegen ist es, dass der Suhrkamp Verlag in seiner preiswerten Regenbogenreihe nun einen Band mit Hannes Bajohrs Arbeiten herausgegeben hat. Er versammelt Auszüge aus dem 0x0a-Projekten mit Gregor Weichbrodt, witzige Automatengedichte, Texte, die mit elektronischen Hilfsmitteln wie etwa der OCR-Texterkennung aus anderen Texten erzeugt wurden sowie kanonische Gedichte der Nachkriegsliteratur, die dem Word-Synonymgenerator zum Fraß vorgeworfen wurden. Zwischen die Kapitel gestreut sind Zitate wie etwa aus dem Fluxus-Manifest von 1963: »Purge the world of bourgeois sickness, ›intellectual‹, professional & commercialized culture, PURGE the world of dead art, imitation, artificial art, illusionistic art, mathematical art …« – hier scheint auf worum es Hannes Bajohr, aber auch Autoren wie Kenneth Goldsmith eigentlich geht: Ein »cross the border, close the gap«, das Verwischen der Grenzen zwischen Hochkultur und Trash, und eine Rückbesinnung auf das Wesentliche, nämlich Kunst, die überrascht, die Perspektiven verschiebt und neue Zusammenhänge herstellt.