In letzter Zeit hört man häufiger, der E-Book-Markt »habe sich auf niedrigem Niveau stabilisiert« oder sei gar »rückläufig«. Je nach Perspektive klingt das mal enttäuscht, mal erleichtert, aber es schwingt immer der Gedanke mit, dass damit die »digitale Disruption« der Buchbranche im Wesentlichen vollzogen sei. Das ist ein gefährlicher Irrtum, vor allem deshalb, weil das E-Book, wie wir es heute kennen, für Verlage gar keine wirklich disruptive Technologie ist.
Es lohnt sich, einen Blick in das Buch »Das Dilemma des Innovators« zu werfen, in dem Harvard-Professor Clayton Christensen den Begriff »disruptive Innovation« prägte. Nach seiner Definition ist diese typischerweise durch folgende Merkmale gekennzeichnet:
- Sie spricht neue Kunden- bzw. Nutzergruppen an.
- Sie bietet einen neuen Kernnutzen.
- Sie ist qualitativ in den meisten klassischen Kaufkriterien der bisherigen Technologie unterlegen.
- Sie erscheint aus Sicht der bestehenden Marktteilnehmer – sowohl Hersteller als auch Kunden – zunächst unattraktiv.
Das gilt für das »klassische« E-Book nur sehr eingeschränkt: Kundengruppen und Nutzenversprechen sind weitgehend identisch, qualitative Unterschiede kann man bestenfalls an Layout, Haptik und Gewicht festmachen, kommerziell sind E-Books für Verlage und Handel hoch lukrativ.
Dagegen erfüllt das Selfpublishing Christensens Kriterien nahezu perfekt:
- Die »Kunden« der Selfpublishing-Autoren sind die Leser, eine vielen Verlagen immer noch weitgehend unbekannte Zielgruppe. Die klassischen Verlagskunden, die Buchhändler, haben dagegen kein Interesse an Selfpublishing-Titeln.
- Selfpublishing ermöglicht neue Preismodelle, neue Arten der Verbindung zwischen Autor und Leser, neue Inhalte und vor allem eine ganz andere Veröffentlichungsgeschwindigkeit.
- Qualitativ hinken die weitaus meisten Selfpublishing-Titel professionellen Verlagsprodukten hinterher.
- Das Segment ist für die meisten Verlage unattraktiv und wird bestenfalls als Scouting-Plattform gesehen, bisherige Verlagsinvestitionen in das Feld sind oft unrentabel und wirken vielfach halbherzig.
Disruptive Technologien werden von etablierten Anbietern zunächst meist nicht ernst genommen. Selfpublisher machen aus Sicht vieler Buchmenschen keine »richtigen« Bücher. Im klassischen Buchhandel findet Selfpublishing praktisch nicht statt. Niemand weiß genau, wie viele Selfpublisher es in Deutschland gibt oder wie viele Bücher sie verkaufen – in offizielle Statistiken gehen sie nicht ein. Selbst der Selfpublishing-Experte Matthias Matting, der es vermutlich am besten weiß, bekannte in einem Vortrag auf der future!publish 2017 in Berlin, keine belastbare Zahl zu kennen. Untersuchungen aus den USA legen nahe, dass dort Selfpublisher den Verlagen bereits einen großen Teil des Buchmarkts abgenommen haben und weiter auf dem Vormarsch sind (http://authorearnings.com/report/october-2016/). Dennoch spricht die offizielle Statistik von einem rückläufigen E-Book-Markt, weil die disruptive Technologie schlicht nicht eingerechnet wird.
Typisch für eine Disruption ist weiterhin, dass die Qualität der Produkte in den klassischen Kaufkriterien (hier z.B. Layout und Gestaltung, sprachliche und literarische Qualität) zwar immer der bisherigen Technologie hinterherhinkt, aber dennoch im Zeitverlauf besser wird, bis die disruptive Technologie irgendwann »gut genug« ist und auch den Nutzern der bisherigen Technologie ausreicht. Diese schwenken dann um, weil sie die Vorteile der disruptiven Technologie nun ebenfalls nutzen wollen. Es lässt sich zweifellos eine Professionalisierung der Selfpublisher feststellen – viele arbeiten heute mit professionellen Lektoren und Grafikern zusammen. Zwar gibt es immer noch viel »Schrott« unter den selbst veröffentlichten Werken, aber längst auch viele Bestseller, die trotz offenkundiger sprachlicher oder inhaltlicher Mängel ein großes Publikum ansprechen, also »gut genug« sind. Soziale Medien, Rezensionen und Amazons Empfehlungsalgorithmen erfüllen dabei aus Lesersicht die Funktion des Qualitätsfilters mindestens so effektiv wie Lektoren in Verlagen.
Gründe für die Leser, immer öfter zu Selfpublishing-Titeln zu greifen, gibt es genug:
- Selfpublishing-Titel sind deutlich günstiger. Selbst veröffentlichte E-Books kosten meist weniger als die Hälfte vergleichbarer Verlagstitel. Hier wirkt sich aus, dass Selfpublisher völlig andere Kostenstrukturen haben und keine Rücksicht auf die Preise gedruckter Bücher und mögliche Kannibalisierungseffekte auf Kosten des Handels nehmen müssen. Zudem sind viele Selfpublishing-Titel, anders als aktuelle Verlagstitel, in Flatrates wie »Kindle Unlimited« zu finden, und oft verschenken Selfpublisher ihre Werke sogar, um neue Leser zu gewinnen.
- Selfpublisher sind viel schneller darin, neue Marktnischen zu erkennen und zu bedienen, als Verlage mit ihren langwierigen Planungsprozessen, saisonalen »Programmen«, Vorschauen und Vertreterkonferenzen. Beispielsweise wurden Minecraft-Fanfiction oder der Thermomix-Trend von Selfpublishern bedient, lange bevor Verlage überhaupt wussten, dass es diese Nischen gab. Zudem haben Selfpublisher deutlich kürzere Veröffentlichungsrhythmen und publizieren oft drei oder vier Romane pro Jahr, wo Verlagsautoren höchstens einmal im Jahr »ins Programm passen«. Dies spricht vor allem Viel- und Serienleser an, die nicht lange auf den nächsten Titel warten wollen, und kommt auch den Empfehlungsalgorithmen der großen Shops entgegen.
- Selfpublisher sind gezwungen, schon früh mit ihrer Zielgruppe in Kontakt zu treten, wenn sie Erfolg haben wollen. Dieser Kontakt ist aber auch ein wichtiger Kanal für Lerneffekte, Feedback und Anregungen. Selfpublisher können »Betaversionen« ihrer Bücher veröffentlichen und diese dann nach den ersten Leserfeedbacks verbessern – etwas, was ein Verlag niemals tun würde. Sie können Experimente wagen, die sich Verlage nicht trauen würden. Und sie können viel schneller auf die Wünsche ihrer Kunden reagieren.
Auch den Autoren, die von Verlagen meist gar nicht als »Kunden« wahrgenommen werden, bietet Selfpublishing viele Vorteile: Geschwindigkeit, Flexibilität, kreative Freiheit, hohe Stückmargen, tagesaktuelle Verkaufszahlen, um nur einige zu nennen. Natürlich gibt es auch Nachteile: Man muss vieles selbst machen und erhält keinen Vorschuss. Doch auch hier bessert sich der »Qualitätsnachteil« des Selfpublishing gegenüber den Verlagstiteln allmählich: Es gibt immer mehr gute und günstige Angebote für professionelle Lektorate, Grafiker etc. Einen Teil dieser Aufgabe können manchmal sogar die Leser übernehmen. Und auch die finanzielle Seite wird mit einem wachsenden Selfpublishing-Markt immer attraktiver. Schon jetzt sind Selfpublishing-Titel immer häufiger in den Bestsellerlisten vertreten, nicht nur bei Amazon.
Ich selbst habe beispielsweise mit meinen Selfpublishing-Titeln, die ich unter meinem Pseudonym Karl Olsberg veröffentlichte, in den letzten zwei Jahren deutlich mehr verdient als mit meinen Verlagstiteln, bei ähnlich großem Zeitaufwand. Ich muss mich also bei jedem neuen Buchprojekt fragen: Mache ich es mit einem Verlag, oder mache ich es selbst? Ich arbeite sehr gerne mit Verlagen zusammen und habe viele gute Erfahrungen gemacht. Trotzdem fällt mir diese Entscheidung aus den oben erwähnten Gründen oft nicht leicht, und manchmal schlägt das Pendel in Richtung »Selbermachen« aus.
Doch dieser Beitrag ist kein Plädoyer für Selfpublishing. Ich möchte lediglich dafür sensibilisieren, dass diese Technologie den Buchmarkt in den nächsten Jahren viel tiefgreifender verändern könnte als das E-Book. Als wirklich disruptive Innovation verändert Selfpublishing nicht nur die Gestalt und den Inhalt des Produkts Buch, sondern die gesamte Wertschöpfungskette. Wie es Amazons Kindle Manager Russel Grandinetti einmal ausdrückte: »Im Buchmarkt sind nur Autoren und Leser zwingend erforderlich. Jeder dazwischen hat sowohl Chancen als auch Risiken.«
Die digitale Disruption des Buchmarkts ist meines Erachtens nicht vorbei. Sie beginnt erst.