Die Auseinandersetzung um Open Access, so hatte man den Eindruck, geriet angesichts anderer Branchenaufreger in den vergangenen Monaten ein wenig in den Hintergrund. Zwar arbeiteten sich Befürworter und Gegner von Open Access im Feuilleton weiterhin an Schlagworten ab, das liebste unter ihnen ist mittlerweile die fixe Idee vom Staatsverlag. Und die Vorstellung der Max-Planck-Gesellschaft, im letzten Frühjahr artikuliert, ein »Flipping« der konventionell erworbenen Bibliotheksbestände in großflächiges Open Access sei nicht nur möglich, sondern vor allem kostengünstig, führte zwar zu anregenden Diskussionen, hatte bisher jedoch wohl nicht den Effekt, den die Autoren des Positionspapiers sich gewünscht haben.
Eines immerhin wird immer klarer: Die meisten Wissenschaftsverlage haben sich durch das Anbieten von Open Access-Programmen aus der Schusslinie genommen, die Kritik der Wissenschaftsfinanziers richtet sich derzeit eher an Bibliothekare: Diese stellten ihr Einkaufsverhalten nicht radikal genug um, so dass Open Access der vollständige Durchbruch nicht gelinge.
Die einsetzende administrative Langeweile wurde jedoch jäh gestört, als vor ein paar Wochen die Geschichte von Sci-hub.io die Runde machte. Die Plattform, nach eigener Beschreibung »the first pirate website in the world to provide mass and public access to tens of millions of research papers«, macht erst gar keinen Hehl daraus, dass ihre Existenz auf einer illegalen Aneignung von Inhalten beruht. (Sehr anschaulich hat David Smith den Funktionsmechanismus in Scholarly Kitchen so beschrieben.)
Sage und schreibe mehr als 48 Millionen wissenschaftlicher Artikel, also ein Großteil aller jemals publizierten Beiträge, ist über die Seite für Leser kostenfrei zugänglich. Damit ist die Debatte darüber, was erlaubt ist, neu entbrannt. Vergleichbar mit den Geschehnissen in der Musikindustrie beim Aufkommen von Peer to Peer-Netzwerken, fragen sich einige nun angesichts der neuen technischen Realität, ob erlaubt sei, was technisch machbar ist.
Alexandra Elbakyan, der Kopf hinter Sci-Hub, beruft sich als Robin Hood der Wissenschaften gar auf Artikel 27 der UN-Menschenrechtskonvention. Danach hat »jeder (...) das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben«. Von illegalem Verhalten ist in dieser Lesart keine Spur – von kostenloser Nutzung auch nicht.
Bisher hat sich das weltweite System wissenschaftlicher Informationsversorgung trotz zahlreicher Defizite als erstaunlich leistungsfähig und stabil erwiesen, auch angesichts des erheblichen Drucks, den der Prozess der Digitalisierung auf die Akteure ausgeübt hat. Das könnte sich mit Sci-Hub rasch und grundlegend ändern. Die faktisch kostenlose Verfügbarkeit der Inhalte an jedem Ort der Welt, angeblich gehostet auf einem Server in Russland, zerstört einen Konsens, der für das wissenschaftliche Publizieren, aber auch generell gesellschaftlich essenziell ist: Der Zweck heiligt nicht die Mittel, technische Machbarkeit kann automatisch jede Aneignung legitimieren.
Gleichwohl: Oft haben Befürworter von Open Access vor genau diesem Szenario gewarnt. Eine unzureichende Reaktion auf legitime Wünsche von Kunden (Bibliotheken, Wissenschaftlern, Forschungsfinanziers) führt immer wieder zu illegitimen Auswüchsen, derer sich irgendwann Staatsanwaltschaften annehmen müssen. Und das ist für alle Beteiligten so unerfreulich wie perspektivlos.
Die Polemik der letzten Jahre um Open Access war in den meisten Fällen weder hilfreich noch spannend. Es ist nun an der Zeit, die Schützengräben, die gerade wieder tiefer werden, zu räumen, insbesondere auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Open Access hat einen Reifegrad erreicht, der sich nicht mehr verdrängen lässt. Digitale Zeitschriften und Bücher in allen Sprachen und überall auf der Erde funktionieren auch in diesem Angebotsmodell, und es darf als gesichert gelten, dass es weder Verlage noch Bibliotheken in den Bankrott getrieben hat. Dass durch Open Access eine Verbreitung und Nutzung von Inhalten um ein Vielfaches steigt, steht ebenso außer Frage.
Sci-Hub und ähnliche Auswüchse stellen eine Verrohung des berechtigten Diskurses um adäquate und moderne Informationsversorgung dar. Bibliothekare, Wissenschaftler und Verleger tun gut daran, solche Praktiken jenseits des Legalen einstimmig abzulehnen – weil sie systemgefährdend sind, ohne an die Stelle des heutigen Systems mit all seinen Schwächen eine zukunftsfähige Alternative zu stellen. Wenig hilfreich sind zugleich die ewigen Bremser, die bar eigener Erfahrungen verstiegene Thesen entwickeln und mit beeindruckender Inbrunst verfolgen. Nun müssen alle Beteiligten beweisen, dass der konstruktive und sicher mühsame Weg zu einer allseits akzeptablen Entwicklung des Ökosystems der wissenschaftlichen Informationsversorgung führt – bevor es dafür zu spät ist.