Es mag entspanntere Arten geben, seinen vorletzten Arbeitstag zu absolvieren, als eine Reise von München nach Leipzig. Georg Reuchlein, scheidender Verleger des Luchterhand Literaturverlags, ließ es sich nicht nehmen, bei der Präsentation einer von ihm selbst initiierten Studie zur Luchterhand-Verlagsgeschichte im Dritten Reich persönlich präsent zu sein. Vorgelegt wurde die Arbeit von Studierenden der Leipziger Buchwissenschaft unter Leitung von Siegfried Lokatis (Siegfried Lokatis, Sophie Kräußlich, Freya Leinemann: Luchterhand im Dritten Reich. Verlagsgeschichte im Prozess. Hauswedell Verlag, Stuttgart, 225 Seiten, 34,90 Euro).
Tiefenbohrungen
Ausgelöst wurden die Tiefenbohrungen vor ziemlich genau sechs Jahren, im Sommer 2012: Als der Journalist Philipp Gessler in der "taz" eine umfangreiche, dicht geschriebene Recherche über die NS-Vergangenheit des Luchterhand-Verlags und seines langjährigen Verlagschefs Eduard Reifferscheid veröffentlichte ("Ein dunkler Keller"), schlug der Text – sechs Jahre nach dem Waffen-SS-Outing von Grass − wie eine mittlere Bombe ein. Im Kern ging es um den Vorwurf der "Arisierung" einer zumindest teilweise in jüdischem Besitz befindlichen Druckerei durch Luchterhand. Die moralische Fallhöhe war beträchtlich, verlegte das eher linksliberale Haus in der alten Bundesrepublik nicht nur den späteren Nobelpreisträger Günter Grass, sondern wurde ob der zahlreich hier erscheinenden DDR-Autoren von Anna Seghers bis Christa Wolf schon mal salopp als "VEB Luchterhand" bezeichnet. Obwohl die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte vermutlich eher Sache des Fachverlags Luchterhand gewesen wäre – 1924 war die Firma von Hermann Karl Wilhelm Luchterhand als Fachverlag für Steuern und Recht in Berlin gegründet worden – stellte sich Reuchlein, Verleger des heute zu Random House gehörenden Luchterhand Literaturverlags, der Verantwortung. Der Schritt, das so brisante wie komplexe Thema einem studentischen Forschungsprojekt anzuvertrauen, war immerhin ungewöhnlich.
Lücken im Archiv
Im ersten Anlauf war dem Thema ein komplettes Masterseminar gewidmet, zu dem auch externe Kenner der Materie wie Philipp Gessler, Hans Alteinhein oder Konstantin Ulmer, der damals gerade über Luchterhand promovierte, hinzugezogen wurden. Wesentlich stützt sich die Studie auf die fünf dicken Aktenbände des Prozesses, den der nach England emigrierte Druckereibesitzer Otto Heinrich Scholz (1901−1990) nach dem Krieg gegen Hermann Luchterhand anstrengte und der – nach fast zwei quälenden Jahrzehnten – 1966 mit einem Vergleich endete. Dabei zeigen sich, so Lokatis, "zwei Wahrheitslinien" – die Akten offenbaren eine juristische Schlammschlacht, in der Scholz nicht nur als unschuldiges Opfer, Reifferscheid und Luchterhand nicht nur abgefeimte Täter figurieren. Der sprichwörtliche "Muff unter den Talaren" der Adenauer-Republik mag ein Übriges getan haben. Während der Prozess auf dem Postweg verhandelt wurde, bringen die Autorinnen des Bandes ihn in eine dramatische "Inszenierung" aus Prolog, drei Akten und Epilog. Das ist effektvoll, erhöht den Erkenntnisgewinn jedoch nicht unbedingt. Trauriger Fakt ist wohl, dass das in Gütersloh und Marbach befindliche Luchterhand-Archiv, was die Nachkriegszeit und die Fünfziger Jahre angeht, beträchtliche Lücken aufweist, die durch Kriegsverluste nicht zu erklären sind. In dem von Reifferscheid angestrengten Umzug des Verlags nach Neuwied sieht Lokatis vor dem Hintergrund des Prozesses ein "Vernebelungs-Manöver", mit dem die Vergangenheit großräumig entsorgt werden konnte. Diese Vermutungen sind nicht ganz neu: "Gibt es ihn?", so soll schon Luchterhand-Autor Peter Härtling mit Blick auf die "Tarnkappenexistenz" des schillernden Eduard Reifferscheid gefragt haben.
"Wir müssen mit Ambiguitäten leben"
Den Vorhang zu und alle Fragen offen? Für Georg Reuchlein, der sich von der Beauftragung der jungen Leipziger Buchwissenschaftlerinnen kein moralisches "Whitewashing" des Verlagsnamens versprach, wohl aber eine Antwort auf die Frage, was in der NS- Zeit und jener der jungen Bundesrepublik eigentlich passiert ist, war die Studie eine "quälende Lektüre". Denn: "Wir alle haben das Bedürfnis nach eindeutigen Wahrheiten. Aber wir müssen offensichtlich mit Ambiguitäten leben und dem Bewusstsein, vielleicht nie die ganze Wahrheit herauszubekommen." Dass die Luchterhand-Geschichte in NS-Zeit und Nachkrieg offenbar nicht nur für viele Achtundsechziger in der Bundesrepublik, sondern selbst für die gewöhnlich gut unterrichtete Stasi ein blinder Fleck war, macht die Sache nicht angenehmer.