Ein Haustier als Symbol für die Heimat
Begründung der Jury: "Mit wenigen Worten eine maximale Wirkung erzielt Andrea Karimé mit einer Geschichte, bei der sich der Leser rasch in einen geflüchteten Jungen hineinversetzen kann. Ungeduldig erzählt er davon, dass er seinen Hund King zuhause zurücklassen musste – und dass der bestimmt bald nachkommt. Karimés Text bewegt sich (auch farblich) in zwei Ebenen: In schwarzen Buchstaben berichtet der Ich-Erzähler von seinen neuen Eindrücken in Deutschland und vergleicht mit seiner 100 Tagreisen entfernten Heimat, in grauen Lettern spricht er sehnsuchtsvoll zu King, dem er gute Ratschläge gibt – dass er warten soll, bis keine Raketen mehr fliegen, dass er nur im Dunkeln laufen soll, dass er sich im Boot über das Meer gut festhalten muss.
In diesen kurzen Sequenzen, die den eigenen Fluchtweg beschreiben, spürt der Leser die große Sehnsucht nach dem alten Zuhause. Als Äquivalent zu diesen Textebenen zeigen Jens Rassmus‘ Bilder die hiesige Realität und die Hindernisse, die die Familie des Jungen bereits überwunden und der Hund noch vor sich hat. Die Lücke zwischen Bild und Text kann vom Leser dann gedanklich ganz unterschiedlich geschlossen werden, je nachdem wie er die Bilder entschlüsselt."
Andrea Karimé: "King kommt noch". Peter Hammer Verlag, 38 S., ab 7
Wie das mit dem Glück war
Begründung der Jury: "Viel zu früh in die Eigenständigkeit hineingeworfen wird Lelio, der seufzend, hoffend, seine Umgebung genau beobachtend und reflektierend erzählt: wie sein alleinerziehender Vater ihm immer fremder wird, das Geld zu knapp, die Welt enger, und wie eine neue algenforschende Nachbarin ganz unkonventionell für ihn zum kleinen Hafen wird. Schritt für Schritt lässt Autorin Frauke Angel den komplett auf sich selbst gestellten und zunehmend überforderten Grundschüler erkennen, dass auch der teilverzweifelt süchtige Vater überfordert ist und man über Probleme mit jemandem reden muss. Und den Leser, dass Freunde Halt geben können und wie wichtig ein großer Vertrauensvorschuss ist – zum Beispiel in Form eines Haustürschlüssels. All das in einer tastend behutsamen Sprache, der es gelingt, das drückende Grau gegen eine beglückende Farbigkeit im Leben auszuwechseln."
Frauke Angel: "Mama Mutsch und mein Geheimnis". Jungbrunnen, 96 S., ab 9
Sorgen im heiteren Mikrokosmos
Begründung der Jury: "Ein Banküberfall bildet den furiosen Auftakt einer teils skurrilen, teils zu Herz gehenden, aber immer witzig-spannenden Geschichte, deren Hauptschauplatz der väterliche Friseursalon ist. Ich-Erzählerin Hani, die seit dem plötzlichen Verreisen ihrer Mutter den Alltag mit ihrem kleinem Bruder organisieren muss, berichtet in der flott vorangetriebenen Handlung, wie sie Licht ins Dunkel ihrer türkischen Familie bringen und herausfinden will, was wirklich mit ihrer Mutter passiert ist. In Null-Komma-nichts findet sich der Leser im Mikrokosmos einer bunten, aber differenziert dargestellten Vielfalt wieder, bei der selbst die Nebenfiguren von der Kindergärtnerin über Freunde bis zur Frau vom Jugendamt sorgfältig entwickelt sind. Benjamin Tienti all seinen Figuren mit großem Respekt begegnet – und die sich untereinander meistens auch. Ohne Klischees wird hier ein schwieriges Thema leicht erzählt."
Benjamin Tienti: "Salon Salami". Einer ist immer besonders. Dressler, 160 S., ab 10
Vom Leben als Bienenstock-Besitzerin
Begründung der Jury: "Auch wenn Bienen derzeit ein Trendthema sind: Hier steht eine wohltuend ruhig erzählte Geschichte im Vordergrund, die sich so komplex wie das Leben im Bienenstock entwickelt. Petra Postert verflicht in ihren Handlungssträngen die Erfahrungen dreier Generationen: die von Josy, die durch das großväterliche Testament plötzlich Besitzerin eines Bienenstocks wird, sich mit Hilfe einer alten Imkerin Wissen aneignet und Verantwortung übernimmt; die der Mutter, deren Abneigung gegenüber Bienen erst durch die Familiengeschichte nachvollziehbar wird; und die des Großvaters, für den nach seiner Flucht der Bienenstock die sichtbare Verbindung zu seiner Heimat war. In einer zweiten Textebene berichtet die Autorin in faszinierenden Geschichten über die Kreisläufe im Bienenstock – literarisch, nicht sachlich-nüchtern. Postert schreibt anschaulich, aber ohne pädagogischen Impuls, sodass der Leser zu verstehen beginnt, wie das Bienenleben und wie unsere Gesellschaftsstruktur funktionieren. Und wie man noch einen Freund gewinnt."
Petra Postert: "Das Jahr, als die Bienen kamen". Tulipan, 192 S., ab 10
Das Genie beherrscht das Chaos
Begründung der Jury: "Fremdschämen, digitale Welten, Industriespionage und Medienkritik stehen im Mittelpunkt dieses Romans. Temporeich treibt Jana Scheerer die Handlung voran: Der besorgte Robert will seinen Cellistenvater schützen, der nach dem Tod der Mutter zum Messie mutiert ist; sein bester Freund erfindet ein Gerät, das Gegenstände entmaterialisiert, speichert und wieder „entzippt“; der wiederum steht im Wettstreit mit seiner Erfinderschwester, die Robert äußerst nett findet. Klar, dass sich die Erfindungen nicht immer so leicht beherrschen lassen und ein herrliches Chaos erzeugen, das noch durch die Pläne einer Reality-Show-Moderatorin getoppt wird. Ebenso leicht und lustig wie spannend erzählt, werden ernste Themen wie Messietum behandelt, die technischen Möglichkeiten unserer dreidimensionalen vorstellbaren Welt kritisch durchleuchtet und Reality-Shows als gezielt produzierte Fake-Wirklichkeit entlarvt. Ein originelles Buch insbesondere für Jungen."
Jana Scheerer: "Als meine Unterhose vom Himmel fiel". Woow Books / Atrium, 190 S., ab 10
Über den Schatten springen
Begründung der Jury: "Auch wenn Bodyshaming ein gesellschaftlich immer relevanteres Thema ist: Die Fettleibigkeit eines Jungen ist nur selten Gegenstand eines Kinder- oder Jugendbuchs. Stefanie Höfler hingegen gelingt es, unaufgeregt die Innensicht eines Jungen zu vermitteln, der sich aus familiären Gründen einen sichtbaren Panzer zugelegt hat und sämtliche Hänseleien und Mobbingattacken gutmütig-stoisch erträgt. Durch die für beide Seiten völlig unerwartete und fast zufällige Zuneigung zwischen einem hübschen Mädchen und ihm verändern sich Sichtweisen: Abwechselnd und mit je eigenem Sprachduktus erzählt die Autorin aus der Perspektive von Sera und Niko, legt Aussagen und Aktionen von Klassenkameraden auf den Prüfstand, treibt die Handlung glaubwürdig voran, die Annäherung, die Veränderung, die zu einem Sich-Wehren nicht nur von Niko führt: Fiesheit muss man nicht hinnehmen."
Stefanie Höfler: "Tanz der Tiefseequalle". Beltz & Gelberg, 190 S., ab 12
Raus aus dem Schafsein
Begründung der Jury: "Hier sind die Erinnerungen eines wenig vom Herdentrieb gesteuerten Schafes, das die unterschiedlichsten Berufe ausübt: Schäferhund, Hauskatze, und schließlich Privatcoach eines schneidigen britischen Reitpferdes, der seine Schlaflosigkeit mit Hochmut wettmacht. Entschlossen und schelmisch versucht Robêêrt, aus seinem Schafsein rauszukommen. Er geht um die Welt, seiner glorreichen Zukunft entgegen.
Ein virtuos geschriebener Bildungsroman, der eine tapfere Figur zwischen burleskem Heroismus und britischer Gelassenheit darstellt. Der durch und durch wirksame Humor gibt jedoch eine fröhliche, aber dennoch wichtige Lebensphilosophie preis: manchmal ist es wohl sinnvoll, aus der Behaglichkeit der Gruppe herauszutreten, um sein eigenes Schicksal zu schmieden."
Jean-Luc Fromental: "Robêêrt", Hélium Editions
Ökologische Irrtümer – Endzeitschrecken
Begründung der Jury: "New York, 2125. Verschmutzung und Überflutungen haben die Erde verwüstet. Während die Mehrheit der „Grauen“ in den Slums der Water-zone zusammengepfercht lebt, genießt die kleine Elite der Unantastbaren die künstliche Sonne der sogenannten Kuppel. Dem Projekt des steinreichen Arthur Parker folgend verlassen riesige Weltraumschiffe jede Woche die Erde, um tausende Ansiedler zu einem weit entfernten Exoplaneten zu bringen. Ausgerechnet Orion, der Sohn des Industriellen, wird seine Komfortzone und seine sichere Welt verlassen, um seine graue Freundin Isis zu retten. Dabei wirft er ein dunkles Licht auf das entsetzliche Projekt seines Vaters.
Diese dystopische Erzählung, die unentwegt spannend bleibt, begnügt sich nicht damit, ein klug ausgefeiltes Szenario zu entwerfen. Indem sie unsere verhängnisvollen Gewissheiten in die Zukunft verlegt, prangert sie auf dem Hintergrund einer ergreifenden Liebesgeschichte die Irrwege und Grauen unserer vergangenen und gegenwärtigen Geschichte an."
David Moitet: "New Earth Project", Didier Jeunesse
Die Kraft der Träume
Begründung der Jury: "Jonas ist in Eritrea geboren. Er ist ein verträumter Junge. Er liebt das Meer und die Sterne. In der Schule passt er nicht auf, aber anmutig ist er - wie ein kleiner Prinz. Als einziges Hab und Gut besitzt er ein Buch mit vielen Bildern über die Tierwelt der Meere. Das wird ihn auf seinem langen Weg begleiten. Als er fünfzehn Jahre alt wird, muss Jonas fliehen, sonst würde ihn die eritreische Armee zwangsweise zum Militärdienst einziehen. Der Leser verfolgt atemlos diese Reise voller Gefahren. Diese heimlichen und lehrreichen Fahrten mithilfe von vorbeifahrenden LKWs, die Irrfahrt und die unverdrossene Ausdauer dieses Kleinen Prinzen bis er schließlich im « Dschungel von Calais » ankommt. Wie ein unterdrückter Aufschrei und wie ein Andersen-Märchen von heute wirft diese Erzählung einen Blick voller Poesie und Ernst auf die Welt der Flüchtlinge … und auf die Kraft der Träume."
Pascal Teulade: "Le Petit Prince de Calais", La joie de lire
Aufschrei gegen das Waldsterben
Begründung der Jury: "Im Regenwald von Amazonien wird ein Indianerdorf niedergemetzelt von Männern, die „so blaß sind wie der Mond“. Nur zwei Mädchen überleben und die älteste, Daboka, erzählt von diesem Schrecklichen, von dem zu erwartetem neuen Leben, von ihrem Schmerz, ihrer Wut und ihrem Traum, eines Tages wieder in Freiheit leben zu können. Eine Geschichte aus alten Zeiten? Nein! Was hier erzählt wird, ist 2013 geschehen – und das Morden geht weiter. Der Lebensraum der Ureinwohner am Amazonas, in dem sie im Einklang mit der sie umgebenden Natur und fernab der Zivilisation leben, ist von Abholzung und dem Schürfen und Bohren nach Gold und Öl bedroht.
Mit Daboka laufen wir barfuß auf den Wegen der Ahnen, nehmen jeden Geruch und jedes Geräusch wahr, empfinden gemeinsam ihre spürbare Unruhe „im Bauch des großen Waldes“. Mit ihr zittern wir um das Dorf und um die grünen Riesen, die ihnen Schutz bieten. Ein kurzer, dichter Text, schön und poetisch, schlicht und ergreifend, der uns berührt und mitnimmt in diese Ecke der Welt, die so gefährdet ist. Ein wunderbarer, unbedingter Aufruf, um das Überleben eines Volkes und das des Planeten zu retten."
Marion Achard: Le peuple du chemin, Editions Talents Hauts
Wenn das Abenteuer an der Straßenecke lauert
Begründung der Jury: "„Etienne Durillon führte ein einsames, trauriges und eintöniges Leben.“ Doch was verbirgt sich hinter diesem seltsamen Prospekt der Agentur „Lebensänderung“? Ein gemeiner Schwindel oder eine wirkliche Hoffnung auf Veränderung ? Könnte der Penner auf dem Bürgersteig nicht schon ein verkappter Transformations-Agent aus diesem Prospekt sein, der inkognito arbeitet? Sehr schnell, innerhalb eines halben Tages verändert sich plötzlich alles im Leben des Etienne Durillon. Unerwartete Ereignisse und Überraschungen folgen hektisch und in einem unbändigen Rhythmus aufeinander in dieser bebilderten Erzählung, in der man ebenso alten Damen mit Tatoos und in Lederjacken begegnet, die auf dem Motorrad durch die Stadt brausen, als auch einem sympathischen Barbesitzer, groß wie ein Riese und mit Glatze oder einem Einbrecherhund und seinem besorgten Herrchen mit Leichenbittermiene.
Zügig und die erfreulichenVeränderungen vorantreibend, erzählt der Roman humorvoll und zärtlich, wie ein ein junger Mann, der sich in seine Schüchternheit und Einsamkeit zurückgezogen hat, plötzlich erfährt, was Freundschaft ist und Mut, Gemeinschaft und Glück."
Oren Ginzburg et Estelle Billon Spagnol: "Le destin (presque) timbré d’Etienne Durillon", Grasset jeunesse
Kriegskind
Begründung der Jury: "Sothik wurde 1967 geboren, in einem Kambodscha, das durch die amerikanischen Bombardierungen und viele Ungerechtigkeiten verwüstet war. Als er drei Jahre alt ist, kommen die Roten Khmer in sein Dorf und behaupten, Recht und Ordnung wiederherstellen zu wollen. Doch wird das Leben der Dorfbewohner durch die jungen Fanatiker immer unerträglicher. Marie Desplechin hat Sothik Hok 2014 anlässlich eines Aufenthalts in Kambodscha getroffen. Er hat ihr von seiner vom Krieg zerstörten Kindheit erzählt und von seinem großen Wunsch, nachfolgenden Generationen davon zu berichten. Sothik ist eine packende Erzählung, die auf berührende Art und Weise davon berichtet, wie ein Terrorregime die Macht übernimmt und ein glückliches Kind ins Unglück stürzt. Sothik, der kleine Junge, erwartet von uns kein Mitleid, sondern Aufmerksamkeit und dass wir gut zuhören und seinen unglaublichen Mut sehen mögen, seine beeindruckende Ausdauer und auch seine Freude und Hoffnung."
Marie Desplechin und Sothik Hok: "Sothik". Illustriert von Tian, Ecole des Loisirs