Reader Analytics

Der (un)bekannte Leser

31. März 2016
Redaktion Börsenblatt
Die Digitalisierung bietet den Verlagen neue Möglichkeiten wie die Erstellung detaillierter Leserprofile – stellt sie damit aber auch vor neue Herausforderungen. 

Um die E-Book-Käufer besser kennen­zulernen, hat sich der Piper Verlag Ende 2015 an einem speziellen Digitalprojekt mit dem Namen Marille beteiligt. Bei der technischen Umsetzung holte sich der Verlag Unterstützung in Großbritannien, bei Andrew Rhomberg und seinem Unternehmen Jellybooks, das sich auf das Datentracking in E-Books spezialisiert hat. Damit das Leseverhalten der Nutzer aufgezeichnet werden kann, versieht Jellybooks das E-Book mit einer Software namens ­"Candy.js". In einer rund dreimonatigen Phase bekamen die Testleser bei Piper eine ausgewählte Anzahl an kostenlosen elektronischen Leseexemplaren zur Verfügung gestellt. Im Gegenzug stimmten sie zu, dass ihre Daten ausgewertet werden.
Dabei zeigten sich auch die technischen Tücken des Trackings, wie Kornelia Holzhausen berichtet, Leiterin Digitale Medien bei Piper und für Marille verantwortlich: "Um die Daten der Nutzer analysieren zu können, müssen die E-Books im EPUB3-Format vorliegen. Das können einige Reader jedoch noch nicht verarbeiten." Für das Piper-Projekt Marille zog diese Vorgabe Einschränkungen nach sich, eine Teilnahme mit Kindle- oder Tolino-­Geräten etwa war aufgrund der technischen Anforderungen nicht möglich. Wie Andrew Rhomberg berichtet, arbeitet das Jellybooks-Team derzeit aber an einer Lösung, damit künftig auch der Tolino ins Boot geholt werden kann.
Für Gründer Rhomberg ist Transparenz beim Tracking das oberste Gebot. "Die Nutzer wissen, dass sie uns ihre Daten zur Verfügung stellen. Um noch mehr Transparenz zu schaffen, führen wir in Kürze ein Feature ein, mit dem sie sich ihre eigenen Daten auch anschauen können", so der Unternehmer. Die deutschen Verlage reagieren im Moment noch verhalten auf das ­Datensammelmodell. Fünf Häuser haben sich mittlerweile für die Zusammenarbeit mit Jellybooks entschieden, mit öffentlichen Äußerungen gehen sie jedoch eher sparsam um.
Dabei sieht Rhomberg große Chancen in der Analyse. Schließlich würden Verlage damit die Möglichkeit bekommen, festzustellen, ob sie ungelesene Bits und Bytes verkaufen – oder ob die Inhalte von den Käufern auch angenommen werden. Hinzu kommt: Konzerne wie Apple oder Amazon sammeln längst intensiv die Daten ihrer Nutzer. Davon haben Verlage allerdings nichts – wer seine Leser kennenlernen will, muss selbst aktiv werden.

Noch ganz am Anfang 
Bisher steckt Reader Analytics hierzulande noch in den Kinderschuhen. Das bestätigt auch Steffen Meier, Leiter Produkt-Innovation und -Marketing beim E-Book-Dienstleister Readbox. Das Leseverhalten in ­E-Books zu tracken, sei bei deutschen Verlagen bisher unüblich, dabei sind sie technisch gesehen Websites. "Und die lassen sich, wie jeder weiß, sehr genau analysieren." Herausforderungen sieht Meier jedoch weniger bei der Gewinnung von Nutzerdaten als vielmehr bei der Verarbeitung. Schließlich gehe es, so Meier, nicht nur um das Sammeln möglichst vieler Informationen, sondern auch um den zielgerichteten Umgang mit den gewonnenen Fakten. Besonderes Potenzial sieht er in der Analyse des Leserverhaltens bei Sach- und Fachbüchern: "Innerhalb thematisch vielseitiger Bücher lässt sich anhand getrackter Informationen erkennen, welche Themenbereiche besonderes Interesse bei den Lesern wecken. Das bietet Verlagen die Möglichkeit, zu reagieren und zum Beispiel eine Monografie zu diesen Themen zu veröffentlichen."

Das Interesse wächst 
Der große Durchbruch blieb bisher noch aus, doch auch beim E-Book-Dienstleister Readfy wird das wachsende Interesse der Verlagskunden an Livedaten spürbar. Das berichtet Miriam Behmer, Geschäftsführerin von Readfy: "Seit einem Dreivierteljahr kommen die Verlagskunden aktiv auf uns zu und fragen gezielt nach Informationen, die sie von uns in Reportings erhalten."
Dabei ist es natürlich nicht so, dass die Verlage ihre potenziellen Kunden bisher nicht erkunden würden. Leserprofile zu erstellen und Daten rund um die Zielgruppe zu sammeln – das tun die Verlage bislang schon auf vielfältige Weise. Beispiels­weise helfen Communitys wie "Vorablesen", "Was liest du?", "Lovelybooks" sowie soziale Netzwerke dabei, die potenziellen Käufer besser kennenzulernen. Nur: Mit Reader Analytics steht ihnen ein deutlich präziseres Instrument zur Verfügung.
Für Miriam Behmer liegt auf der Hand, dass die Erhebung von Livedaten erst dann so richtig interessant wird, wenn sie un­mittelbar in den Produktionsprozess einfließen. Wie Rhomberg berichtet, gibt es bisher keine Nachfrage, Romane auf der Basis von Leserdaten umzubauen. Vielmehr versteht man das Angebot von Jelly­books als Werkzeug für Verkauf und Marketing, mit dem sich festsellen lässt, weche Titel Bestsellerpotenzial besitzen. Werden die neuen Methoden für das Schreiben trotzdem langfristig verändern? Noch gibt es darauf keine Antworten.
Fest steht bislang nur: Die Verlage werden die neuen Möglichkeiten nach und nach für sich entdecken. Andrew Rhomberg hat bereits angekündigt, dass in nächster Zeit zwei weitere Verlage die Analysetechnik einsetzen wollen – selbstverständlich mit dem Wissen und dem Einverständnis der Leser. Richtig genutzt, bietet das Datentracking viel Potenzial. Bevor die Verlage die Ernte einfahren können, müssen sie sich aber noch vielen Herausforderungen stellen – eine davon ist es, das Vertrauen der Leser zu gewinnen und zu behalten.