Rainer Groothuis' Vision zur Zukunft der Buchbranche

I have a dream

3. Juli 2018
Redaktion Börsenblatt
Medien beschreiben die Buchbranche derzeit oft als schwächelnd. Diese Wahrnehmung von außen ist zum Großteil eine Folge überflüssiger Nabelschau, meint Rainer Groothuis und sagt: Es geht auch anders.

Man mag es nicht glauben, dass sich Menschen im Jahr 2018 die Augen reiben über das, was wir eine "gesellschaftliche Entwicklung" nennen könnten oder ein "kulturelles Phänomen" oder einen absehbaren Sinkflug.

Die Buchbranche hat in drei Jahren rund sechs Millionen "Stammleser" verloren. Warum? Analyse der GfK: Ständige Überreizung, geschrumpftes Zeitkontingent, das Gefühl, sich der Anstrengung einer Lektüre nicht mehr aussetzen zu können, mangelnde Konzentrationsfähigkeit führen zur Abkehr vom Buch und zum als entspannend wahrgenommenen Kulturkonsum in Form von {na, raten Sie mal:} Netflix-Serien.

Soweit die Diagnose in Stichworten. Der sieche Patient wird allerdings enttäuscht, hatte er auch eine Therapie erwartet – gegen die Zirrhose wird zunächst Kamillentee empfohlen: Näher ran an die Leser, mit Fokus-Gruppen über Programme sprechen, Lesungen an ungewöhnlichen Orten, mehr Trailer und Leseproben – so tönt es von den Tannenspitzen in relativer Ratlosigkeit. Die meisten dieser therapeutischen Maßnahmen gibt es längst – das dumme ist: Es merkt keiner, denn sie greifen erst, wenn die Menschen in einer Buchhandlung sind. Die, um die es geht, aber folgen unseren Lockrufen nicht, der Buchhandelsbesuch ist für so manchen eben nicht mehr Teil des samstagmorgendlichen Kaufbummels durch den eigenen Kiez. Für diese Menschen haben Bücher und die Beschäftigung mit ihnen an Relevanz verloren.

Einige Verlage machen weniger Bücher, einige Buchhändler machen einige Lesungen mehr, einige Verlage verbünden sich enger mit Bloggern, einige Buchhändler lassen in Molkereien lesen. Individuelle Antworten auf den "Trend" – schön & gut. Aber wenn sich "gesellschaftlich" etwas tut, das "Trend" genannt wird und dieser Trend dadurch geprägt ist, dass die Leute nicht mehr in Buchhandlungen gehen und sich für uns nicht mehr interessieren – wie sollten solche Therapiehäppchen diesen Trend zurückdrängen, wenigstens eindämmen können? Wer hört uns zu, wer bemerkt dies? Das Gefühl von Überforderung von und Desorientierung durch 90.000 Novitäten beispielsweise – würde dies ein anderes, wenn es 70.000 wären? Wohl kaum. Usw.

Sie gehen auf einen Empfang, kommen mit einem Ihnen bislang Unbekannten ins Gespräch. Er klagt über all das, was in seinem Leben nicht funktioniert, wie schlecht es ihm geht, das Auto kaputt, die Kinder renitent, die Frau flüchtet sich in Yoga, und sein Rücken erst – ich wette, Sie freuen sich auf ein Wiedersehen mit einer solchen Nervensäge. Dieser Typ – das sind wir.

Das ständige Gerede von Krise und Schwindsucht macht die Branche kranker als sie ist – es ist zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden. Keine Medienmeldung kommt mehr ohne Formulierungen aus wie "schwächelnde Buchbranche", "Buchbranche in der Krise" usw. usf. – ein verheerendes Bild ist entstanden, ein Bild, das manchen Käufer auch aus den Buchhandlungen fernhalten dürfte: Denn Loser haben nichts zu preisen, ihr Angebot neigt dazu, irgendwann nur noch zu nerven – Menschen wollen mit Siegern sprechen, nicht mit Typen, die darüber lamentieren, wie malad sie sind – wie unattraktiv, eitel, überflüssig ist es, die Welt mit seiner Nabelschau zu belästigen?

Die Buchbranche schafft einen Umsatz von rund neun Milliarden Euro, rund 30 Millionen Menschen lesen mehr oder weniger regelmäßig – welche andere Kulturbranche kommt da mit? Welches andere Kulturangebot wird in dieser Breite nach wie vor angenommen? Welches Medium genießt ein so hohes Ansehen, auch weit über seinen Nutzerkreis hinaus? Will sagen: Könnten wir bitte endlich aufhören, ständig von "Krise" zu reden? Natürlich müssen wir uns Gedanken machen – und es wäre prima, wir hätten damit längst begonnen –, aber der Blick auf das halbvolle Glas motiviert, nicht lamentöses Gegreine. Und auf kritische Diagnosen sollten wir mit tatkräftigen Therapien antworten statt mit Fragezeichen.

Wie geht es Ihnen? Ich bin es jedenfalls unendlich leid, Mitleidsbekundungen ausgesetzt zu sein, sobald ich über meinen Beruf und meine Kunden spreche – hej, Freunde: Wir machen Bücher, Bücher! Keine von inzwischen mehr als 400.000 Apps im Irgendwo usw. – ach, die Abgrenzung zum Digitalen ist langweilig. Sagen wir doch einfach, wofür wir da sind. Was wir gut können und warum. Und sagen das so, dass man uns hört und versteht, dass wir Sympathien gewinnen und neue Bündnispartner.

Wir können uns weiter im kleinklein ergehen, jeder für sich und alle – ja, was alle?, gegeneinander? im Ringen um Krümel eines kleiner werdenden Kuchen?

Diese unsere Branche ist eine vielteilige, klein- und mittelständische Branche, ihre Teilnehmer legen Wert auf Individualität und Vielfalt. Das ist nicht gut in schlechten Zeiten – denn wenn "das Buch" nicht mehr attraktiv erscheint, verlieren alle, egal wie groß oder klein, mainstream oder individuell sie sind. Wo jeder sein Stimmchen für sich erhebt, bleiben alle unerhört.  Wir aber müssen das Ansehen einer Branche verändern und den Nimbus unseres Produktes gegen eine Welt verteidigen: Wir brauchen einen Chor wie Donnerhall und "Freude schöner Götterfunken".

Harald Welzer sprach auf den Buchtagen von den "analogen Räumen", die es zu verteidigen gilt. Diese "analogen Räume" sind übrigens nichts als das reale Leben selbst, also das jenseits des Internets. Mit dem Gedanken an diese analogen Räume könnten sich viele Bündnispartner auftun – ein Bündnis nicht maschinenstürmerisch gegen etwas, sondern für etwas, geradezu für das Leben. Für eine Kultur realer Begegnung, realen Lebens – die Zeit ist reif dafür, schon Apple und Google beginnen, ihre Nutzer auf "digitales Fasten" {was für ein Begriff!} einzustimmen, denn  zu viel "Cloud" tut auch nicht gut.

Kaum jemand ist so prädesteniert wie wir, die "Büchermenschen", ein solches Bündnis zu initiieren. Bibliothek, Kino, Theater, Oper, Ballett, Museum, Literaturhaus, Festival, Kulturzentrum, Zeitungs- und Magazinverlag und viele, viele andere sind ebenfalls "analog", sind angewiesen auf Verlangsamung und Konzentration. Sie sind Partner für eine Kampagne, aus der eine Bewegung wird – eine Renaissance der Selbstbestimmtheit, der Reflektion, des bewussten Umgangs mit der eigenen Lebenszeit und der der Anderen.

Das ist Ihnen nicht "praktisch" genug? "I have a dream" war auch nicht praktisch – aber die Kraft der Vision machte Hoffnung und bewirkte Bewegung, Veränderung, Neues.

Zum Autor

Rainer Groothuis ist Buchgestalter und Geschäftsführer von Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen in Hamburg.